Merkel mahnt zu Geduld

BERLIN. Dieser Auftritt war kein Heimspiel: Bundeskanzlerin Angela Merkel musste bei ihrem Besuch beim Tag der Industrie in Berlin kräftig Kritik einstecken.

"So langsam werden wir ungeduldig", hatte BDI-Präsident Jürgen Thumann vor Angela Merkels Rede beim "Tag der Industrie" in Berlin verkündet und hinzugefügt, der gemeinsame Nenner der Regierung sei offenbar "eine Null". In der Diplomatie nennt man so etwas kurz vor einem hohen Besuch einen Affront. Die Repräsentantin der Null trat in Gestalt der Kanzlerin gestern trotzdem fröhlich lächelnd ans Rednerpult. Merkel erklärte den versammelten Industriellen ruhig aber bestimmt, dass ihre Regierung doch etwas mehr Substanz habe und dass Geduld auch eine Tugend ist. Die Mahnungen der Kanzlerin gipfelten in der Feststellung: "Man kann immer sagen: Das ist alles zu wenig. Aber lassen sie uns die 15, 20 Sachen, die wir vorhaben, doch erst mal machen!" Als sie den Saal, den früheren Dresdener Bahnhof, betrat, bekam sie kaum mehr als Pflichtapplaus. Als sie ihn nach der Rede wieder verließ, standen viele Teilnehmer anerkennend auf. Auf die Frage, ob sie den Stier bei den Hörnern habe packen wollen, meinte Merkel draußen verschwitzt, aber zufrieden: "Das war ja wohl auch richtig." Wie zu erfahren war, will sie auch heute bei ihrer Haushaltsrede im Bundestag ähnlich offensiv die zunehmend in die Kritik geratene Politik ihrer Regierung verteidigen. Die Spannungen mit der Wirtschaft haben mehrere Gründe. Ganz oben steht das Antidiskriminierungsgesetz, bei dem Merkel der SPD nachgab."Man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen"

"Das hat uns sehr verärgert", sagte der Chef der Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, dieser Zeitung. "Das ist zusätzliche Bürokratie." Und der scheidende BDI-Hauptgeschäftsführer Ludolf von Wartenberg, meinte auf Nachfrage: "Das war schon eine Sache der Führung." Merkel ging darauf schnörkellos ein. Sie wisse schon noch sehr genau, was sie im Wahlkampf gesagt habe und erwarte von der Wirtschaft keine Zustimmung für den Kompromiss mit der SPD. Aber gemessen an den anderen wichtigen Reformen sei dieses Thema untergeordnet. "Da möchte ich mit meinem Vorgänger sagen: Man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen." Als Merkel noch nicht im Saal war, hatte Thumann gesagt, dass die Regierung zu zaghaft sei. Jetzt habe man ein Zeitfenster, um Veränderungen kraftvoll anzugehen. Stattdessen aber verliere man sich "in fruchtlosen Debatten". Sogar das gefürchtete Wort "Reformstau" ließ Thumann fallen und bekam heftigen Beifall. Merkel, die gut vorbereitet war, mahnte zu mehr Vertrauen. "Wir haben gesagt, dass wir bis zum Sommer die Eckpunkte der Reformen vorlegen. Und wir werden sie bis zum Sommer vorlegen." Die Gesundheitsreform zum Beispiel sei so komplex, dass man da schon ein paar Wochen brauche. Sie könne ja einmal die Anwesenden aufschreiben lassen, wohin ihre Arbeitgeberbeiträge zur Krankenversicherung ihrer Meinung nach flössen. Es werde sich zeigen: "Die Zahl der Menschen, die das deutsche Gesundheitssystem kennen, hält sich ziemlich in Grenzen." Jetzt bekam die Kanzlerin sogar zustimmende Lacher. Insgesamt versuchte Merkel das Bild einer Regierung zu zeichnen, die die Reformen entschlossen, aber sorgsam angeht und auf deren Zusagen man sich verlassen könne. Die Mehrwertsteuererhöhung verteidigte sie damit, dass der Bundeshaushalt "ein Sanierungsfall" sei. Zugleich versuchte Merkel die Unternehmer mit der Bekräftigung von Versprechen zu ködern: Die Erbschaftssteuerbefreiung für Unternehmer, die ihre Betriebe weiterlaufen lassen, werde kein bürokratisches Monster werden, "ich werde das jedenfalls nicht mitmachen". Und bei der Gesundheitsversorgung würden die steigenden Kosten des Systems "nicht zu Lasten der Lohnzusatzkosten" gehen. Der Mischung aus Charme und Festigkeit konnte selbst Thumann nicht widerstehen. Er ging nach Merkel ans Rednerpult und sicherte ihr nun zu, dass die Bundesregierung "weiterhin" auf die Unterstützung der deutschen Wirtschaft rechnen könne. Zum Abschied schenkte Thumann der Kanzlerin eine Thermos-Tasse und sagte: "Man kann sehr heiße Getränke hineingießen, ohne sich die Finger zu verbrennen."

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