Merkels Reise ins Ungewisse

BRÜSSEL. (dpa) Die Kanzlerin hat mittlerweile reichlich internationale Routine. Doch vor der Übernahme der Präsidentschaften in der EU und in der G8-Runde der führenden Industriestaaten plus Russland zum Jahreswechsel ist zu spüren, dass auch bei Angela Merkel langsam aber sicher die Spannung wächst.

Wenn sie zum Beispiel auf dem am Freitag beendeten EU-Gipfel in Brüssel so aufzählte, was die Bundesregierung alles anstoßen will oder auch regeln muss, hätte man leicht annehmen können, Deutschland richte sich mindestens auf einen jahrzehntelangen Vorsitz in der EU und G8 ein - und nicht nur für sechs Monate beziehungsweise ein Jahr. Die Agenda reicht vom Klimaschutz über Kooperationsabkommen bis zum Kosovo. Eine Menge Stoff, doch darauf kann man sich noch einrichten. Unabsehbar ist dagegen die Entwicklung der internationalen Krisen: Hält sich im Libanon der demokratisch gewählte Präsident Fuad Siniora? Wie entwickelt sich der Atomstreit mit dem Iran? Ziel: Neuer Fahrplan für die EU-Verfassung

Die Finnen, so ein Seufzer aus Merkels Delegation, haben in ihrer Ratspräsidentschaft selbst erlebt, dass das einzige Konstante das Unbekannte ist. Nach dem Gipfel konnte Merkel wenigstens mit der Gewissheit nach Hause fliegen, dass in dem illustren Kreis der 25 Staats- und Regierungschef ein gewisses Mindestmaß an Kooperationswillen vorhanden ist. Dass die Türkei-Frage nun mit der bereits beschlossenen Teilaussetzung der Verhandlungen gewissermaßen auf Eis liegt, wird der Bundesregierung das Geschäft erleichtern. Merkel sah auch, dass Deutschland in seiner schwierigen Mission "von vielen sehr unterstützt werden wird". Es herrsche ein "sehr gutes Klima" für die Lösung bestimmter Fragen. So konnte Merkel in interner Runde bei diesem letzten EU-Spitzentreffen vor der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ihre ersten Überlegungen zur Verfassungsfrage präsentieren. Nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich will sie im Juni zu einem von allen Seiten akzeptierten neuen Fahrplan für die Verfassung kommen. Ein Team von Spitzenbeamten aus jedem EU-Land soll in den kommenden Monaten abklären, was machbar ist und was nicht. Das Ziel von Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist es, die dann 27 Staaten politisch auf die Eckpunkte der "neuen" Verfassung einzuschwören. Danach - so der Gedanke - könnte eine, wie es hieß, "kurze und knappe" Regierungskonferenz den neuen Vertragstext aushandeln. Die Zeit drängt. Experten haben ausgerechnet, dass etwa ein Vorlauf von 15 Monaten nötig ist, um einen neuen Vertrag in 27 Ländern zu ratifizieren. Unverrückbar ist für Merkel, dass die Verfassung zur Europawahl im Frühjahr 2009 stehen soll. Somit müsste die Grundsatzeinigung in der EU Ende 2007 unter Dach und Fach sein. Die seit den Referendumsniederlagen in Frankreich und den Niederlanden im Frühsommer 2005 verkündete "Denkpause" ist jetzt beendet. Die Verfassungsbefürworter - immerhin eine Zweidrittel-Mehrheit von 18 Ländern - beginnen sich zu formieren. Sie vereinbarten ein Sondertreffen. Merkel signalisierte Wohlwollen, hielt sich aber mit öffentlichen Bewertungen zurück. Ab sofort ist sie nicht mehr eine "Partei" in der EU, sondern als neue EU-Ratspräsidentin "ehrliche Maklerin".Kosovo selbstständiger Staat?

In dieser Rolle wird sie schon bald auch in der Kosovo-Frage gefordert sein. Vermutlich im Frühjahr wird nach fast einjährigen erfolglosen Verhandlungen zwischen Serben und Albanern UN-Kosovo-Vermittler Martti Ahtisaari eine Lösung für die Zukunft der fast nur noch von Albanern bewohnten Provinz vorlegen. Vieles deutet darauf hin, dass das Kosovo dann ein selbstständiger Staat außerhalb Serbiens unter Aufsicht der Europäischen Union (EU) werden dürfte. Dass dieser Plan indes vom UN-Sicherheitsrat gebilligt wird, gilt als unwahrscheinlich. Mehrfach hat Merkel davon gesprochen, dass in den Präsidentschaften dicke Bretter gebohrt werden müssen. Das ist noch eine zurückhaltende Umschreibung.

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