Moral, Forschungsfreiheit und Heilserwartungen

Ungewohnte Bündnisse im Bundestag: Bei der Debatte über das Für und Wider der Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen am kommenden Donnerstag kennt das Parlament keine Fraktionsgrenzen.

Berlin. Wenn der Bundestag übermorgen über die Stammzellenforschung debattiert, wird man das Parlament nicht wiedererkennen. Da stehen zum Beispiel die Unterschriften des Linken Gregor Gysi und von FDP-Chef Guido Westerwelle gemeinsam unter einem Antrag, die von SPD-Generalsekretär Hubertus Heil und CSU-Wirtschaftsminister Michael Glos unter einem anderen. Es geht - wieder einmal - um eine große moralische Frage. Soll Deutschland die Forschung mit importierten embryonalen Stammzellen weiter zulassen, für die befruchtete Eizellen getötet werden müssen? Wenn ja, in welchen Grenzen? Wo beginnt das Leben? Und, was wiegt schwerer, das Recht auf Leben des Embryos oder die Hoffnungen unheilbar Kranker auf neue Therapien? Schon 2002 hatte es diese Debatte gegeben, auch damals war der Fraktionszwang aufgehoben. Heraus kam ein Kompromiss. In Deutschland dürfen Stammzellen nicht gewonnen werden, aber deutsche Forscher dürfen sie importieren, wenn sie schon vor dem 1. Januar 2002 existierten. Mit dem Stichtag wollte man vermeiden, einen Anreiz zur Produktion neuer Stammzelllinien zu geben. 25 Forschungsvorhaben wurden seitdem genehmigt.

Inzwischen hat sich viel getan. So gibt es dank neuester Forschung nun die Hoffnung, dass Stammzellen von Erwachsenen so rückprogrammiert werden können, dass sie wie embryonale Stammzellen funktionieren. Wenn diese Hoffnung trägt, könnte man an solchen rückprogrammierten Zellen unproblematisch weiter erforschen, warum Stammzellen Organe oder auch Nervenstränge neu wachsen lassen, warum sie also das Heilungsmittel schlechthin sein könnten.

Gegner fordern völliges Forschungsverbot

Andererseits hat die Stammzellenforschung selbst noch nicht zu neuen Therapien geführt. Heilungschancen verspricht bisher nur die Verwendung körpereigener "adulter" Stammzellen. Fremde Zellen werden abgestoßen. Beide Fakten beflügeln nun die Gegner, ein völliges Verbot der "würdewidrigen Zerstörung menschlicher Embryonen" zu fordern. 52 Abgeordnete vor allem aus der Union, aber auch einige Grüne und Linke, stehen hinter diesem Antrag. Eine zweite Gruppe, 149 Parlamentarier stark und unterstützt von Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn, Integrations-Staatsministerin Maria Böhmer (CDU) und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD), will keinerlei Änderungen am jetzigen Gesetz.

Unterdessen sind die verfügbaren alten Stammzell-Linien aus der Zeit vor 2002 inzwischen kaum noch brauchbar. Deutschland drohe zurückzufallen, heißt es in der Wissenschaft. Argumentiert wird mit der Forschungsfreiheit, die ebenfalls Verfassungsrang hat. Die meisten Abgeordneten, 185 insgesamt, haben nun einen Gruppenantrag unterschrieben, der eine "einmalige" Verschiebung des Stichtages auf den 1. Mai 2007 vorsieht. Diese Position vertritt auch Wissenschaftsministerin Annette Schavan (CDU). Angela Merkel hat keinen der Anträge unterschrieben, doch setzte sie im Dezember beim CDU-Parteitag einen Beschluss durch, der für eine behutsame Novellierung offen ist. Die katholische Kirche protestierte heftig. 92 Volksvertreter, darunter viele Liberale, wiederum wollen den völligen Verzicht auf einen Stichtag. Ein neuer Stichtag sei doch nur eine "ethische Wanderdüne", kritisiert die Abgeordnete Ulrike Flach (FDP). "In einigen Jahren debattieren wir wieder." Auch einige Unionspolitiker, speziell aus den neuen Ländern, unterschrieben den Antrag.

Am Donnerstag wird erst einmal debattiert, drei Stunden lang - und wahrscheinlich sehr leidenschaftlich. Abgestimmt wird erst im März. Namentlich. Keiner wird sich hinterher verstecken können.

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