Mutmacher folgt Menschenfischer

BERLIN. Die Bundesrepublik hat einen neuen Bundespräsidenten. Horst Köhler, künftig erster Mann im Staat, überraschte mit einer erfrischenden Antrittsrede.

Für einen Moment steht Horst Köhler etwas irritiert neben den eigens aufgestellten Saalmikrofonen unter dem Bundesadler. Die letzten Worte seinen Amtseids, "so wahr mir Gott helfe", sind verklungen, Wolfgang Thierse gratuliert dem neuen Bundespräsidenten, auch Gerhard Schröder hat seine Hand geschüttelt. Aber nun entsteht eine kleine Kunstpause. Soll er von hier oben sprechen? Seine Rede, auf die alle mit Spannung warten? Schließlich erteilt ihm der Bundestagspräsident am Rednerpult das Wort. Erleichtert läuft Köhler ein paar Meter abwärts und kann endlich loslegen. Es ist der Tag von Abschied und Anfang. Zur gemeinsamen Sitzung des Bundestages und der Länderkammer hat sich der Berliner Reichstag schon eine halbe Stunde vor Beginn gut gefüllt. Von der ersten Reihe auf der Besuchertribüne beobachten die beiden Altbundespräsidenten Roman Herzog und Richard von Weizsäcker das Geschehen. Dahinter sitzen Köhlers erblindete Tochter Ulrike und sein Sohn Jochen. Auf der Bundesratsbank sind zwölf von 16 Ministerpräsidenten erschienen. Auch das Bundeskabinett ist beinahe vollzählig versammelt. Für Horst Köhler und seine Frau Eva sowie den scheidenden Amtsinhaber Johannes Rau mit Gattin Christina stehen vor den Bankreihen im Plenarrund vier Extra-Stühle bereit. Johannes Rau geht das Zeremoniell sichtlich nah. Für den bibelfesten Predigersohn und bekennenden "Menschenfischer" ist an diesem Donnerstag nicht nur die Präsidentenzeit zu Ende, sondern eine Jahrzehnte lange politische Karriere. Als Wolfgang Thierse mit bewegenden Worten erklärt, Rau habe sich "um das Vaterland verdient gemacht", muss der Gelobte nach unten schauen, um seine innere Aufgewühltheit und wohl auch einige Tränen zu verbergen. Sich verdient machen. Das war es, was er immer wollte. Auch für Horst Köhler ist der Vorgänger im "besten Sinne ein Bürgerpräsident". Aber der 61-jährige hält sich nicht lange mit großen Worten auf. Was war ihm alles nachgesagt worden? Dass er der Favorit Angela Merkels und damit politisch festgelegt sei. Dass er durch den früheren Job beim Internationalen Währungsfonds nur den kühlen Ökonomen geben könne. Dass er kein Gespür für die einfachen Menschen habe. Köhlers Antrittsrede räumt gründlich mit solchen Vorurteilen auf. Er spricht Klartext. Und zwar auf eine gleichermaßen ernste wie humorvolle Art, die auch die Skeptiker in den rot-grünen Sitzreihen zunehmend fasziniert. Köhler greift die großen Probleme von der Arbeitslosigkeit bis zur Misere des Sozialstaats positiv auf. "Wir sollten uns nicht einreden, wir könnten das nicht packen." Viele Menschen winkten beim Wort "Reform" ab. Offensichtlich sei es nicht gelungen, das Ziel der Reformen zu erklären, nämlich "aus Deutschland wieder ein erfolgreiches Land zu machen".Lob und Beifall von allen Seiten

Dann zitiert er seinen Vorvorgänger Roman Herzog, der schon 1997 einen Ruck in Deutschland forderte. "Warum bekommen wir den Ruck nicht hin?", fragt er in den Saal. "Weil wir alle noch immer drauf warten, dass er passiert." Hier hat die Opposition noch gut Lachen. Aber Köhler kommt flugs auf die "Agenda 2010" zu sprechen, die "in die richtige Richtung" weise und "mit Konsequenz" fortgesetzt werden müsse. Da klatscht der Kanzler besonders eifrig und animiert die Seinen, es ihm gleich zu tun. Dort brandet der Beifall aber erst so richtig auf, als sich Köhler von der Opposition den "Mut" wünscht, "ihre Alternativen umfassend und vollständig klarzumachen". Schluss mit den Selbstzweifeln und auf die eigenen Stärken besinnen. Das ist Köhlers Botschaft. Dafür bringt er sogar die Fußball-EM ins Spiel: Die Bälle würden zwar in Asien produziert. Aber das Produkt besitze "eine nahtlose Oberfläche: eine Spitzenleistung deutscher Materialforschung", triumphiert Köhler - und genießt die verblüfften Gesichter quer durch alle Parteien. Am Ende sind alle angetan. "Da war viel frischer Wind drin", schwärmt FDP-Chef Guido Westerwelle. "Eine große Rede", applaudiert SPD-Amtskollege Franz Müntefering. Gelegentlich gibt es zwar Befürchtungen, Köhler könne sich zu sehr in die Tagespolitik einmischen. Aber einstweilen halten es die allermeisten mit der Einschätzung des CDU-Parlamentariers Hartmut Schauerte: "Köhlers erfrischende und intelligente Sicht kann nur eine Bereicherung sein."

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