Nach der Wahl ist vor der Wahl

Berlin. Während die Genossen von der SPD trotz andauernder Talsohle frohgemut die nächsten Wahlen anpeilen, scheint die Union Angst vor der eigenen Courage zu bekommen. Ihr eigener Reformeifer ist ihr nicht mehr geheuer.

"Der Knoten ist geplatzt", schrieb SPD-Chef Franz Müntefering in einem Brief an alle führenden Parteimitglieder. Nachdem die Union zu "schlingern" beginne und gleichzeitig die SPD durch "Offenheit, Dialog und Standfestigkeit" überzeuge, sei die Wahlentscheidung 2006 wieder offen. Im Hinblick auf die wichtigen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen Anfang nächsten Jahres gab Müntefering die Losung aus: "Ab sofort ist Wahlkampf!" In der Debatte werde man das SPD-Ziel der Bürgerversicherung gegen das CDU-Kopfpauschalen-Modell stellen.Achillesferse Gesundheitspolitik

Punktgenau landete der SPD-Vorsitzende mit diesem Hinweis auf der empfindlichsten Stelle der Union, die seit Monaten um den richtigen Kurs in der Gesundheitspolitik streitet. Zwar gab es zu Wochenbeginn ernsthafte Signale aus CSU- wie CDU-Kreisen, die Politik der gegenseitigen Nadelstiche einzustellen und stattdessen einen Gesundheitskonsens anzustreben. Doch stehen der friedvollen Absicht nach wie vor schwer lösbare Probleme im Wege. Die sozialpolitischen Vorstellungen der CDU weichen von denen der bayerischen Schwester deutlich ab. Zu allem Überfluss machten die Christdemokraten am Dienstag weitere Schlagzeilen, nachdem Zeitungen aus dem Leitantrag zum CDU-Parteitag Anfang Dezember in Düsseldorf zitiert hatten. Demnach plant die Partei der Vorsitzenden Angela Merkel, ungeachtet der allgemeinen Reformsättigung, die Bevölkerung mit weiteren Plänen zum Sozialabbau zu beglücken. Unter anderem soll der Kündigungsschutz noch stärker gelockert werden (bei Neueinstellungen und älteren Arbeitnehmern sowie für Betriebe mit bis zu 20 Beschäftigten). Auch soll die Mitbestimmung gestutzt und die Lohnentwicklung gebremst werden. Nach Informationen der Zeitung "Die Welt" plädiert die Parteispitze auch für die Möglichkeit, die Wochenarbeitszeit "gemäß europäischem Vorbild" auf bis zu 73 Stunden zu erhöhen. Dieser Punkt wurde am Dienstag von einem CDU-Sprecher energisch dementiert. Die Zahl sei absurd und entbehre jeder Grundlage. Ähnlich äußerte sich Präsidiumsmitglied Hildegard Müller, die jedoch einschränkte, aus betrieblichen Gründen könne es notwendig sein, "für einen ganz kurzen Zeitraum die Arbeitsspitze zu erhöhen". Man darf gespannt sein, wie CDU-Vize und NRW-Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers auf diesen Leitantrag, der am kommenden Montag vom CDU-Bundesvorstand gebilligt werden soll, reagieren wird. Nach seinen Äußerungen der letzten Wochen war der Eindruck entstanden, als betrachte er schon die Hartz-Reformen als zu weitgehend. Zudem könnten sich neue Schwierigkeiten im Verständnis mit der CSU ergeben, deren Landesgruppenchef Michael Glos gestern betonte, die CSU sei "auch die Partei der Arbeitnehmer". Allerdings waren es bayerische Politiker, die Anfang März in einem Thesenpapier noch radikalere Reformen verlangt hatten - was vom Sozialflügel der CDU entrüstet vom Tisch gefegt wurde. Auch die Inhalte des Leitantrags sind nicht neu: Sie waren bereits am 19. Juli 2004 im "Wachstumsprogramm" der CDU vorgestellt worden. Merkel sagte gestern, die Reformen seien nötig, um mehr Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen. Müntefering konterte trocken: "Die Probleme Deutschlands liegen nicht bei den Arbeitnehmern." Grünen-Chef Reinhard Bütikofer warf Merkel "die FPDisierung der CDU" vor und sagte: "Maggi hält Kurs."

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