Nachdenker und Vorleser

TRIER. Er ist Jura-Professor und Bestseller-Autor, und nicht minder überraschend als diese Berufs-Kombination sind die Thesen, die Bernhard Schlink diese Woche in Trier vertrat. Ihr Kern: Gerechtigkeit taugt nicht als oberstes Ziel; wer sich zu sehr auf sie fixiert, verliert bisweilen den Blick für die Wirklichkeit. Und verpasst Chancen.

Nein, gerecht ist es nicht, was den Palästinensern widerfahren ist: Große Teile des Landes ihrer Vorfahren wurden ihnen genommen. Gerecht war auch das Angebot nicht, das ihnen in Camp David unterbreitet wurde - allerdings das beste, das sie auf lange Sicht bekommen können. Die Friedensverhandlungen scheiterten, weil Arafat & Co. auf Gerechtigkeit beharrten. Ein Beispiel, mit dem der Berliner Rechtswissenschaftler und Schriftsteller, der auf Einladung der Juristischen Studiengesellschaft in Trier seinen Aufsatz "Der Preis der Gerechtigkeit" vorlas, seine These untermauerte:Gerechtigkeit ist ein hohes Gut - doch man sollte ihr die Realität entgegensetzen.Große Ansprüche an Gesellschaft

"Der Vorleser" heißt das Buch, mit dem Bernhard Schlink bekannt wurde, und in Anlehnung daran überschrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihren Artikel zu seinem 60. Geburtstag in diesem Jahr mit "Der Nachdenker". Ein Titel, an dessen Berechtigung Schlink in Trier keine Zweifel aufkommen ließ. Um Willkür zu beseitigen, erläuterte er, müssten Gesetze her. Und damit es möglichst gerecht zugehe, brauche man möglichst viele Gesetze. Die Folge: eine "Verrechtlichung" und "Vergerechtlichung", die wiederum Erwartungshaltungen produziere. Während früher etwa ein Unfall oder Arbeitslosigkeit als Schicksalsschläge hingenommen worden seien, bestehe heute der Anspruch, dass die Gesellschaft die Folgen korrigiere und kompensiere. Gut so?Niederlagen werden als Unrecht empfunden

Nicht, wenn übertrieben wird, findet Schlink: "Aus schwacher Begabung kann Verletzung des Rechts auf Chancengleichheit werden, aus einer verfehlten Ausbildungs- und Berufswahl Verletzung des Rechts auf Arbeit." Kurz: Es bestehe die Gefahr, dass Niederlagen - in Verkennung der Realität - als Unrecht empfunden würden und damit nicht als Herausforderung angenommen werden könnten. "Lernen setzt eine Akzeptanz von Wirklichkeit voraus." Schlinks Beispiel: Verliert ein Staat einen Krieg und sieht die Unterlegenheit seines Militärs und seiner Infrastruktur ein, eröffnet das ihm die Möglichkeit, das Niveau des Gegners zu erreichen oder gar zu überholen. Beharrt er darauf, seine Sache sei gerechter und seine Soldaten tapferer, vertut er diese Chance. Oder, übertragen auf die Palästinenser: Ihre Situation habe sich zunehmend verschlechtert, weil sie sich nie mit der Grundlage abgefunden hätten, auf der sie operieren müssten: dem Verlust eines Teils ihres angestammten Landes. Mit "lernunwilligem Insistieren auf dem ihnen zugefügten Unrecht" und ihrer "Kultur der Niederlage" hätten sich die Palästinenser "um jede Chance eines neuen Anfangs und Aufstiegs" gebracht. Worauf zielen Bernhard Schlinks Thesen ab? Allein darauf, Denkanstöße zu geben, unterstreicht er mehrfach. Keinesfalls richte er sich gegen den Rechts- und Sozialstaat; es gehe ihm auch nicht um eine Kritik am Fortgang der "Verrechtlichung" und "Vergerechtlichung". Sein Anliegen sei die Analyse der Folgen dieser Entwicklung. Folgerichtig hält sich Schlink mit Empfehlungen zurück. Der Weg zwischen einer pragmatischen, an der Wirklichkeit ausgerichteten Sichtweise und einer idealistischen, an Gerechtigkeit orientierten Haltung sieht er als Balanceakt: Genauso, wie einer Fixierung auf die Wirklichkeit mit dem "Aber" des Rechts und der Gerechtigkleit zu begegnen sei, müsse der "verrechtlichten" und "vergerechtlichten" Wahrnehmung das "Aber" der Wirklichkeit entgegengesetzt werden.

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