Nagelprobe für die Schlachtfeld-Ethik

Washington. George W. Bush hatte einen Traum: Kaum ist die "Koalition der Willigen" in irakische Dörfer und Städte eingerückt, begrüßen "befreite" Bürger die Soldaten freudestrahlend mit Blumen, Umarmungen und Küssen. Von Bushs Traum ist wenig geblieben. Nun steht die Strategie der Militärs zur Disposition.

Bushs Vision von einem klinisch reinen Krieg hat sich seit dem Wochenende in einen blutigen Alptraum verkehrt. Irakische Sondereinheiten als Zivilsten getarnt, teilweise hinter Frauen und Kindern Deckung suchend oder gar in amerikanischen oder britischen Uniformen auftretend - um dann überraschend zu attackieren. Oder weiße Fahnen schwenkende Iraker, die anstatt sich zu ergeben plötzlich aus nächster Nähe das Feuer eröffnen. Statt der eigentlich erwarteten Massen-Kapitulation der Iraker führt Bagdad nun einen eigenen Psycho-Krieg - mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln. "Kriminell" verhielte sich der Gegner, kritisierte US-Oberbefehlshaber Tommy Franks gestern, doch aus seinen Worten klang auch jede Menge Frustration: "Wir werden auch weiter Verluste haben." Denn bis zu zwei Dutzend US-Marinesoldaten fielen in den letzten 48 Stunden diesen Täuschungsmanövern zum Opfer - eine für die Militärführung schockierende Tendenz. Diese Entwicklung führt nun dazu, dass man im Pentagon die ursprünglich verabschiedete Schlachtfeld-Ethik auf den Prüfstand stellt. Denn nach einer gestern veröffentlichten Umfrage vom Sonntag meinen nur noch 44 Prozent der US-Bürger, die Invasion laufe gut. Am Samstag waren es immerhin noch 62 Prozent gewesen. Lautete ursprünglich die von der politischen Führung - gegen den Unmut mancher Militärs - ausgegebene Devise, einen von "Fürsorge" und "Humanität" (Originalton Rumsfeld) für die Bevölkerung und gefangene Iraker geprägten Kampf zu führen, so "werden wir uns nun auf die neue Situation einstellen," so ein Offizier des US-Zentralkommandos in Florida, das auf Echtzeit-Videomonitoren oder über Sprechfunk am Wochenende weitgehend hilflos mit ansehen musste, wie vorwiegend 18- bis 21-jährige Marinesoldaten ohne jede Kampferfahrung ahnungslos in gut präparierte Hinterhalte tappten und dann "abgeschlachtet wurden," so ein das Kampfgeschehen beobachtender US-Offizier. Nach den herben Verlusten und den Berichten über die Präsentation gefangener US-Soldaten fragten gestern die ersten Kommentatoren bereits, welche strategischen Fehler von den Verantwortlichen gemacht wurden - und wie diese ausgemerzt werden können. Eine Überlegung ist, in bestimmte Städte gar nicht mehr einzudringen, sondern diese nur noch einzukreisen, um dann dem Hauptteil der Truppen an den Orten vorbei einen schnellen Weg nach Bagdad zu bieten. Doch dies schließt dann Sabotageakte und Angriffe im Rücken der US-Divisionen keinesfalls aus. Auch befürchten Experten, dass nach einer Einnahme Bagdads diese nicht gesäuberten Städte einen ständigen Unruheherd während des von der US-Regierung angestrebten zügigen Wiederaufbaus darstellen werden. Und spätestens in Bagdad stellt sich dann ein Problem, bei dessen Lösung US-Präsident George W. Bush nach Ansicht des amerikanischen Militärstrategen Greg Foster von der Armeeschule in Washington eigentlich nur verlieren kann. Denn erlaubt er den Koalitions-Soldaten einen weniger rücksichtsvollen Umgang mit Zivilisten und eine großzügigere Schieß-Regelung, riskiert er eine massive öffentliche Reaktion vor allem in jenen arabischen Staaten, die derzeit mehr oder weniger stillschweigend die Militäraktion unterstützen. Bleibt Bush jedoch bei der derzeitigen Strategie, droht bei den absehbaren Strassenkämpfen in der irakischen Hauptstadt ein hoher Blutzoll. Die bisherigen strikten "Regeln des Kampfes" haben bereits zu unerwarteten Verlusten geführt. So berichten in die Fronttruppen "eingebettete" Reporter von irakischen Panzern, die sich hinter zivilen Gebäuden verschanzen und von einer US-Artillerie, die deshalb keinen Feuerbefehl vom Zentralkommando in Florida erhält. Oder von feindlichen Mörsertrupps, die sich in Privathäuser zurückziehen und deshalb bisher nicht attackiert wurden. Man habe die bitteren Lehren des Vietnam-Krieges gelernt, versicherten US-Militärs immer wieder, und werde deshalb maximalen Schutz der Bevölkerung garantieren. Doch spätestens an den Toren Bagdads, das ließen gestern Strategen der Armee durchblicken, werde man "flexibel" entscheiden müssen.

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