Nahost-Experte: Die Europäische Union rückt für die Türkei in weite Ferne

Trier · Der Streit über Konsequenzen aus dem Verfassungsreferendum geht weiter. Experte Michael Lüders glaubt, dass die Regierung in Ankara ihren Blick schon von Europa abgewandt hat.

Hat die Türkei noch eine realistische Chance, Mitglied der Europäischen Union zu werden? Nach dem Verfassungsreferendum mehren sich die Stimmen, die einen EU-Beitritt des Landes als gescheitert betrachten. "Das ist mit der neuen Verfassung und diesem Autokraten nicht möglich", sagte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn unter Verweis auf den künftig noch mächtigeren türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Allerdings dürfe der Beitrittsprozess noch nicht offiziell beendet werden, meint Asselborn.

Die Beitrittsverhandlungen mit der EU dürften sich weitgehend erledigt haben, meint dagegen der Nahost-Experte Michael Lüders. "Man muss dazu auch sagen, dass sie nicht wirklich ehrlich geführt worden sind", sagte der Islamwissenschaftler im Interview mit unserer Zeitung. Lüders Prognose: Noch sei die EU zwar der wichtigste Handelspartner für die Türkei. Aber Erdogan orientiere sich in Richtung Fernost, Russland und China. Ministerpräsidentin Malu Dreyer warnte vor vorschnellen Reaktionen. "Europa muss deutlich machen, dass wir Partner der Türkei sein wollen, nicht einer autokratischen Regierung, sondern der freiheitsliebenden Bürger, die an eine demokratische Zukunft ihres Landes glauben", sagte die Trierer SPD-Politikerin.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Julia Klöckner verwiesen auf die Diskussionen in der Türkei über die Wiedereinführung der Todesstrafe. Das sei "die röteste aller roten Linien", sagte Juncker. Die bedingungslose Ablehnung der Todesstrafe sei eines der Fundamente der EU. Wer sich so deutlich gegen die grundlegenden Rechts- und Wertvorstellungen der EU stelle, könne dieser Wertegemeinschaft nicht angehören, sagte Klöckner. Die rheinland-pfälzische CDU-Chefin sprach sich dafür aus, die sogenannten Heranführungshilfen einzustellen. Die Türkei erhält im Zuge des Beitrittsprozesses EU-Hilfen in Milliardenhöhe. Alleine für den Zeitraum von 2014 bis 2020 sind es 4,45 Milliarden Euro. Ein großer Teil kommt aus der deutschen Staatskasse. Die EU hatte 2005 Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen, sie liegen aber schonlänger de facto auf Eis.

Derweil ist der Streit um Vorwürfe über Wahlmanipulationen weiter eskaliert. Die größte Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei CHP, will das Ergebnis des Referendums nicht anerkennen. CHP-Sprecherin Selin Sayek Böke sagte am Mittwoch, die Partei erwäge einen Rückzug aus dem Parlament. Die türkische Wahlkommission wies am Abend einen Antrag der Opposition auf Annullierung des Referendums zurück.

Der Chef der OSZE-Wahlbeobachter, Michael Georg Link, kritisierte, von einer Kooperation der türkischen Regierung zur Klärung der Vorwürfe "kann leider keine Rede sein". Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sagte an die Adresse der Wahlbeobachter: "Ihr könnt nicht in die Türkei kommen und Euch in ihre Politik einmischen." Das Referendum sei "transparent" verlaufen. Die Feststellungen der Wahlbeobachter seien "äußerst parteiisch".

Die Bundesregierung riet der Türkei, die Bedenken der internationalen Wahlbeobachter nicht einfach abzutun. Die Regierung in Ankara sei "gut beraten, das ernst zu nehmen, intensiv zu prüfen", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. (mit dpa)

Hintergrund: Interview mit dem Nahost-Experten Michael Lüders

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