"Nicht versetzt": Das Konzept Sitzenbleiben steht auf der Kippe

Mainz · Eltern, Schüler, Lehrer - es ist schwierig, in Rheinland-Pfalz jemanden zu finden, der sich für das Sitzenbleiben ausspricht. Passend dazu sind die Zahlen seit Jahren rückläufig.

 Bei Zeugnis-Sorgen helfen Experten weiter. Foto: Jens Büttner/dpa

Bei Zeugnis-Sorgen helfen Experten weiter. Foto: Jens Büttner/dpa

(dpa/lrs) - In Urlaub fahren, ins Freibad gehen, faulenzen - für die meisten Schüler beginnen am 24. Juli die sechs schönsten Wochen des Jahres. Einigen dürfte jedoch beim Gedanken an die dritte Schulstunde der Schweiß ausbrechen, dann gibt es nämlich Zeugnisse. Für manche gibt es dann schwarz auf weiß, dass sie nicht in die nächsthöhere Klassenstufe versetzt werden. Nicht nur bei Schülern, sondern auch bei Lehrern, Eltern und Politik wird Sitzenbleiben immer unbeliebter - das Konzept scheint aus der Zeit gefallen.

Auch wenn die Zahl der Sitzenbleiber zurück geht, findet der Vorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung Rheinland-Pfalz (VBE), Hjalmar Brandt: "Es wird immer noch zu viel sitzen geblieben." Die Maßnahme sei im pädagogischen Sinne oft nicht erfolgreich, und die soziale Integration der Sitzenbleiber teuer. Brandt sagt aber auch: "Sitzenbleiben ist in der Bevölkerung akzeptiert. Es gibt Gruppen, die wollen das Sitzenbleiben erhalten, weil es ein Selektionsmechanismus ist." Brandt gehört selbst offensichtlich nicht zu dieser Gruppe - er sagt: "Die Landesregierung macht das gut: Es wird langsam, aber sicher abgebaut."

Das Statistische Bundesamt hat die Anzahl der Sitzenbleiber der Zeugnisvergaben 2003 und 2013 miteinander verglichen: In Rheinland-Pfalz ging die Quote von 2,7 auf 2,0 Prozent zurück, das Bildungsministerium spricht sogar von 1,8 Prozent. Im Bundesschnitt verlief der Rückgang von 2,5 auf 2,3 Prozent weniger deutlich. An der Saar dafür umso stärker: Hier mussten 2003 3,3 Prozent der Schüler wiederholen, 2013 waren es sogar nur 1,9.

Der Leistungsvorsprung, den Wiederholer in den ersten Wochen in der neuen Klasse hätten, sei nach einem Jahr schon verschwunden, sagt Bildungsforscher Rainer Watermann von der Freien Universität Berlin. "Im weiteren Verlauf fallen die Wiederholer dann wieder hinter ihre neuen Klassenkameraden zurück." Bei Kindern, die trotz schlechter Leistungen versetzt würden, laufe die Lernkurve in der Regel günstiger als bei Sitzenbleibern.

Das rheinland-pfälzische Bildungsministerium verfolgt laut eigener Aussage den Plan, Schüler so zu fördern, dass sie von sich aus die Versetzung schaffen. Das Land unterstütze Schüler unter anderem mit Ganztagsangeboten an zwei von drei Schulen und mit der gezielten Förderung lernschwacher Schüler. Unterstützung dafür kommt von Landeselternsprecher Thorsten Ralle, der jedoch auch im Feld der Eltern starke präventive Förderung sieht: "Die Nachhilfezahlen sprechen für sich. Die Zahlen im Nachhilfe-Bereich sprechen dafür, dass Eltern das selbst in die Hand nehmen."

Der Bundesverband der Nachhilfe- und Nachmittagsschulen (VNN) schätzt, dass etwa 14 Prozent der Schüler in Deutschland regelmäßig Nachhilfe nehmen. Bei rund elf Millionen Schülern wären das etwa 1,5 Millionen. "Ganz vorsichtig und grob geschätzt sind zehn Prozent der Nachhilfeschüler versetzungsgefährdet, und den meisten kann geholfen werden", sagt VNN-Vorsitzende Cornelia Sussieck. Allerdings gehe der Trend in eine andere Richtung: "Auch gute Schüler nehmen Nachhilfe."

Die Eltern im Land beteiligen sich auch selbst daran, das Sitzenbleiben im Land unnötig zu machen. Wenn Sitzenbleiben nur gesetzlich abgeschafft würde, wäre den Kindern nicht geholfen, findet Thorsten Ralle. Hjalmar Brandt vom VBE sagt: "Sitzenbleiben ist ein Relikt des selektiven Schulsystems. Aber es gehört zum Schulsystem wie die Ferien auch." Immerhin können von Jahr zu Jahr immer mehr Schüler ihre Sommerferien ungetrübt genießen.

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