Ohren auf, Augen zu "Adriane" liest gerne vor

Längst hat jede Gemeinde ihre eigene Internetseite. Doch nicht alle Auftritte sind für alle Nutzergruppen zugänglich. So haben es behinderte Menschen schwer, sich im "World Wide Web" zurecht zu finden. In Trier informierten sich Experten auf einem Symposium, welche Barrieren bestehen und wie Homepages frei zugänglich gestaltet werden. Internetbrowser, die nur mit Tastatureingabe und Sprachausgabe funktionieren, ermöglichen auch blinden Menschen das Surfen im Internet. Ein Pfälzer Software-Entwickler hat mit "Adriane" ein entsprechendes Programm erstellt.

 Auch sehbehinderte oder blinde Menschen nutzen das Internet: Das Bild zeigt die Startseite des Videoportals Youtube (links), dargestellt durch den Internetbrowser „Adriane“ – Links und Inhalte der Seite werden vom Programm „vorgelesen“.TV-Fotos: Mechthild Schneiders (1), Miguel Castro (2)

Auch sehbehinderte oder blinde Menschen nutzen das Internet: Das Bild zeigt die Startseite des Videoportals Youtube (links), dargestellt durch den Internetbrowser „Adriane“ – Links und Inhalte der Seite werden vom Programm „vorgelesen“.TV-Fotos: Mechthild Schneiders (1), Miguel Castro (2)

Trier. "Keine Überschrift, einhundertneunundachtzig Links ..." Undeutlich kommen die Worte des Screenreaders aus den Boxen, der Blinden das Lesen von Internetseiten ermöglicht. Überschriften seien wichtig zur Orientierung, berichtet Anna Courtpozanis vom Aktionsbündnis barrierefreie Informationstechnik (Abi) beim Symposium "Mehr Wert für Alle" in der Katholischen Akademie in Trier. Neue Anforderungen wegen Web 2.0

Sonst müsste sich der Nutzer alle 189 Linknamen anhören um zum gewünschten Inhalt zu gelangen - nur ein Beispiel für Hürden im Internet, die Nutzern das "Surfen" im Internet erschweren. Betroffen sind davon vor allem Menschen mit Behinderungen. Gefragt sind in erster Linie jedoch Programmierer und Webdesigner, wenn es um freien Internetzugang für Jedermann geht. Insbesondere, weil das Netz in den vergangenen beiden Jahren verbreiteter und interaktiver geworden ist. Das Mitmach-Internet "Web 2.0" liegt im Trend und stellt neue Anforderungen, da jeder Nutzer Inhalte einstellen kann.Wenn die Maus zur Barriere wird

Komplizierte Bedienung, Schreibfehler, schwieriger Satzbau oder Amtsdeutsch stellen viele Menschen, nicht nur Beeinträchtigte, vor unlösbare Aufgaben. Texte im Leicht-Lesen-Format fordert deshalb Harald Weber vom Institut für Technologie und Arbeit (TA): "Barrierefreiheit ist ein Komfort, davon hat jeder was." Wichtige Internetseiten für Behinderte stellen Gemeinden und Behörden, deren elektronische Verwaltung (E-Government) weite Wege erspart. Doch im Netz stößt diese Nutzergruppe schnell auf Hindernisse. Auf barrierefreie Internetseiten sind bundesweit rund 150 000 Blinde und 500 000 Sehbehinderte angewiesen. Daher müssen Schriften vergrößerbar sein, ohne den Seitenaufbau zu zerstören. Blinde benötigen die Braillezeile (Blindenschrift) oder ein auf Sprache ausgerichtetes System, wie es IT-Entwickler Klaus Knopper vorstellt (siehe unten). Die über 600 000 manuell-motorisch eingeschränkten Personen nutzen spezielle Eingabegeräte oder arbeiten mit Tabulator, der bei mausbasierter Programmierung nicht funktioniert. Häufig im Netz seien die 30 000 stark hörgeschädigten oder gehörlosen Menschen, weiß "web for all"-Projektleiterin Brigitte Luckhardt. Da sie MP3-Dateien nicht nutzen können, sollten deren Inhalte als Text bereit stehen: "Das ist für alle von Vorteil." Trier. (mc) Ein nacktes Auswahlmenü. Keine Bilder, keine Animationen. Und stattdessen ein Ton, der blechern Zeile um Zeile vorliest. Der Internetbrowser von Klaus Knopper würde in einem Design-Wettbewerb wohl keinen Spitzenplatz erringen.Doch wer hier einen Rückfall in das PC-Steinzeitalter vermutet, liegt vollkommen falsch. Schöne bunte Internetseiten dürften für Knoppers Ehefrau, die gerne an Online-Auktionen teilnimmt, keine Bedeutung haben. "So hübsch das ist, es ist vollkommen sinnlos, wenn man keinen Zugang zu grafischen Oberflächen hat", sagt Knopper. Seine Ehefrau ist blind.Also krempelte Ingenieur, Uni-Dozent und Software-Entwickler Knopper die Ärmel hoch und programmierte zusammen mit seiner Frau eine Lösung, um die Navigation auf Internetseiten für Blinde zu erleichtern - mit Erfolg. Jetzt hat Knopper "Adriane" auch für jedermann zur Verfügung gestellt. Das Besondere: Das Programm unterliegt der sogenannten "Open-Source"-Maxime: Gemeint ist Software, die nichts kostet und beliebig oft kopiert und für eigene Zwecke verändert werden darf. Surfen, chatten, schreiben

 Der Bildschirm bleibt schwarz: Auf barrierefrei programmierten Seiten findet sich die blinde Anna Courtpozanis mit Sprachausgabe-unterstützten Systemen oder Braillezeile gut zurecht.

Der Bildschirm bleibt schwarz: Auf barrierefrei programmierten Seiten findet sich die blinde Anna Courtpozanis mit Sprachausgabe-unterstützten Systemen oder Braillezeile gut zurecht.

 Entwickler Klaus Knopper

Entwickler Klaus Knopper

Open Source ist auch "Knoppix", ein ebenfalls vom Pfälzer Entwickler zusammengestelltes Komplettpaket mit dem alternativen Computer-Betriebssystem "Linux" und etlichen Zusatzprogrammen wie Gimp (Bildeditor) oder OpenOffice (Büropaket). Adriane ist Teil dieser sogenannten "Distribution" ab Version 5.3. Knoppix startet direkt von einer DVD und muss nicht auf dem heimischen Rechner installiert werden. Künftig soll auch "Adriane" auf diese Weise nach dem Einschalten des Rechners loslegen. Eine entsprechende "Live-CD" ist in Vorbereitung. "Adriane" ist keine Neuerfindung. Schon jetzt gibt es spezielle Tastaturen für Blinde, genannt Braille-Zeilen. Auch für die Sprachausgabe existieren verschiedene Lösungen. Mit "Adriane" hat Knopper vorhandene Linux-Hilfsprogramme unter einer einheitlichen Oberfläche integriert und angepasst. Mit diesem geballten Angebot kann der Nutzer Internetseiten abrufen, chatten, E-Mails und SMS schreiben, Texte erfassen, Musik hören oder Kontakte verwalten. Dabei ist "Adriane" laut Knopper keineswegs ausschließlich für blinde User gedacht. Eine Anwendergruppe könnten auch ältere Menschen sein, für die das Internet bislang ein Fremdwort gewesen sei und die mit herkömmlichen Browsern überfordert seien. Auch Analphabeten könnten "Adriane" nutzen, um den Inhalt von Internetseiten zu verstehen.Manche Barriere wird auch "Adriane" nicht überwinden können. Dazu gehören etwa verschachtelte Sätze. Knopper verweist zudem auf - für "Normalsehende" selbstverständliche - Grafikelemente wie Flash oder Java-Applets. Und fehlt einem Bild der sogenannte Alt-Erklärtext, hört der "Adriane"-Nutzer nur den mitunter kryptischen Dateinamen der Grafik. Überhaupt: Im Kurz-Selbstversuch mit "Adriane" zeigt sich, wie sehr so manche Internetseite von Barrieren geprägt ist. Was visuell aufgeräumt wirkt, entpuppt sich im Textbrowser als ellenlange Bleiwüste scheinbar unzähliger Links - wohlgemerkt, ohne Sichtkontakt, nur einer blechernen, künstlichen Stimme folgend. Knopper: "Ein blinder Mensch hat keine Übersicht. Er ,sieht' ja nur eine Zeile." Aber seine Frau ruft bei eBay jetzt schneller neue Angebote auf.Knoppix liegt immer wieder einzelnen PC-Fachzeitschriften bei, kann aber auch per Post bestellt werden. Nutzer mit DSL-Verbindungen können sich das 4,4 Gigabyte große Paket auch als Iso-Image aus dem Internet herunterladen. Das Abbild lässt sich mit einem Brennprogramm auf einen DVD-Rohling übertragen.Symposium "Mehr Wert für alle" Barrierefreiheit im Internet ist Thema des jährlichen Symposiums "Mehr Wert für alle" in Trier . Teilnehmer sind Webdesigner, Entscheider und Internetnutzer. Das Symposium findet seit 2003 statt. Veranstalter sind Club Aktiv in Trier, das Institut für Technologie und Arbeit der Universität Kaiserslautern, rdts und die Katholische Akademie.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort