"Osama Bin Laden war in unserer Reichweite"

Osama Bin Laden sei in der afghanischen Bergregion Tora Bora "ohne Zweifel" in Reichweite amerikanischer Truppen gewesen, als im Dezember 2001 die US-Militärführung eine folgenreiche Entscheidung getroffen habe: den El Kaida-Chef nicht mit allen zur Verfügung stehenden Einheiten zu verfolgen.

Washington. Dieses "Versagen, die Arbeit zu Ende zu führen" habe dauerhaft die Entwicklung des Konflikts in Afghanistan und die Zukunft des internationalen Terrorismus geprägt. Zu diesen Aufsehen erregenden Schlussfolgerungen kommt eine Analyse eines US-Senatsausschusses, die am Wochenende in Washington veröffentlicht wurde und die politische Debatte neu beleben dürfte: Haben George W. Bush und sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nach den 9/11-Anschlägen wirklich genug getan, um zu Beginn des Afghanistan-Krieges führende Köpfe der Terror-Organisation auszuschalten?

Der Senatsausschuss kommt nun zu dem klaren Fazit: nein. Um den 16. Dezember 2001 herum seien Bin Laden und seine Leibwächter "unbelästigt aus Tora Bora heraus marschiert und im unkontrollierten, von Stämmen beherrschten pakistanischen Grenzgebiet verschwunden", heißt es in dem Bericht. Und: "Das überwältigende Arsenal der amerikanischen Militärmacht, von Scharfschützen bis zu mobilen Einsatzkommandos, wurden an den Seitenlinien gehalten." Die Analyse ist allerdings parteipolitisch gefärbt: Sie wurde vom Mehrheitssprecher des Ausschusses, dem demokratischen Senator John Kerry, in Auftrag gegeben. Er hatte Ausschuss-Mitarbeiter beauftragt, alle verfügbaren Dokumente und Militärberichte zu dieser Thematik auszuwerten. Die Analyse wurde der Öffentlichkeit nun 48 Stunden vor der Rede von US-Präsident Barack Obama an die Nation vorgelegt, in der dieser morgen Abend zur besten Sendezeit seine künftige Afghanistan-Strategie vorstellen will.

Mit der für die frühere Bush-Regierung negativen Bewertung dürfte das Weiße Haus zwei strategische Ziele verbinden. Zum einen könnte der Bericht als Warnung an jene US-Bürger zu verstehen sein, die der von Obama beabsichtigten Aufstockung der Truppen in Afghanistan um bis zu 35 000 Soldaten negativ gegenüberstehen oder sogar ein Ende des Militäreinsatzes fordern. Die Botschaft des Präsidenten ist deshalb: Die strategischen Ziele sind nur mit ausreichend Personal zu erreichen. Zum anderen weisen die Parteifreunde Obamas mit der Analyse auch Bush, Rumsfeld und den damaligen militärischen Führern eine Mitschuld an der derzeitigen Lage in Afghanistan zu, die sich seit Amtsantritt des neuen Präsidenten trotz einer Erhöhung der eingesetzten Soldaten im März diesen Jahres bisher nicht verbessert hat. Ex-Verteidigungsminister Rumsfeld hatte in der Vergangenheit bereits versucht, die Entscheidung zu verteidigen, die Jagd auf Osama Bin Laden vor allem afghanischen Verbündeten zu überlassen. Man habe befürchtet, dass ein massiver Einsatz von US-Truppen negative Reaktionen in der Bevölkerung hervorrufen würde.

Zudem habe es keine wirklich schlüssigen Informationen gegeben, dass sich Osama Bin Laden tatsächlich in der Bergregion aufgehalten habe. Doch das sieht der Kongressbericht der amerikanischen Demokraten nun ganz anders.

Meinung

Der Blick zurück

Bei seinem Amtsantritt versprach der amerikanische Präsident Barack Obama auch eine neue politische Kultur: Er wolle nicht alte Schlachten schlagen und werde deshalb den Blick nach vorn richten. Umso verblüffender nun, dass sein Parteifreund und Berater John Kerry überraschend eine längst vergessene Kontroverse reanimiert hat und den früheren Präsidenten George W. Bush dafür haftbar macht, dass sich der gesuchte El-Kaida-Chef Osama Bin Laden weiter auf freiem Fuß befindet. Der zeitliche Zusammenhang mit der morgigen Grundsatzrede Obamas zur Afghanistan-Problematik ist dabei kein Zufall, sondern geschickt koordiniert. Die US-Demokraten, selbst in den eigenen Reihen höchst gespalten bei der Frage einer Truppenaufstockung für diesen "notwendigen Krieg" (Obama), wollen damit der zweifelnden Bürgermehrheit im Land noch einmal einen Motivationsschub für einen Konflikt verleihen, bei dem das Weiße Haus längst über eine Abzugsstrategie sinniert. Die aktuelle Argumentationslinie ist mit Blick auf die Bin Laden-Analyse aber klar: Nur eine deutliche Erhöhung der Soldatenzahl kann Erfolge bei der Stabilisierung und im Kampf gegen die Terrororganisation El Kaida bringen. nachrichten.red@volksfreund.de

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