Panik und Chaos

Zur Zeit der Katastrophe von Tschernobyl lebte ich in Kiew - Luftlinie 80 Kilometer vom Unfallort entfernt. Ich arbeitete als Ärztin in einem Krankenhaus von Kiew. Am frühen Morgen des 26. April 1986 verbreiteten sich in Kiew Gerüchte, dass einer der vier Reaktoren zerbrochen sei.

Um 9 Uhr sprach der Gesundheitsminister der Ukraine, Romanenko, im Fernsehen zur Bevölkerung. Es sei nichts passiert und alles in Ordnung. Die Kinder könnten ruhig draußen spielen und an den Feierlichkeiten zum 1. Mai teilnehmen, so der Minister. Trotzdem reagierte die Bevölkerung verängstigt und unsicher. Ich ließ meine damals neunjährige Tochter zu Hause. Wir ließen die Fenster geschlossen und reinigten feucht drei- bis viermal pro Tag die Wohnung. Gefährlich war für uns, dass der Wind genau von Tschernobyl in Richtung Kiew kam. Erst am 3. Mai wurde uns durch Romanenko gesagt, dass etwas passiert sei, und dass man sich vor Staub schützen sollte. Am 5. Mai um 9 Uhr hieß es von offizieller Seite, dass alle Schulkinder in Sicherheit gebracht werden sollten. Um 15 Uhr hieß es dann: Es bestehe doch keine Gefahr, die Kinder könnten in Kiew bleiben. In diesem Durcheinander brach Panik und Hektik aus, weil jeder sein Kind in Sicherheit bringen wollte. Mein Mann und ich fuhren mit unserer Tochter zum Bahnhof, wo es kaum ein Durchkommen gab, weil sich eine riesige Menschenmenge dort angesammelt hatte. Im letzten Augenblick konnten wir unsere Tochter, nachdem ich das fünffache des Fahrpreises bezahlt hatte, durch ein Zugfenster einem Zugbegleiter anvertrauen. Der Zug fuhr nach Moskau, wo mein Cousin lebte. Er sollte dort meine Tochter aufnehmen. Erst am 15. Mai wurde offiziell entschieden, die Kinder aus Kiew in weit entfernte Gebiete der Ukraine zu bringen. Die Kinder kamen erst am 1. Oktober 1986 nach Kiew zurück. Für die Bevölkerung gab es keinerlei Schutzhinweise bezüglich der Nahrungsaufnahme. Da mein Mann dienstlich in ganz Russland unterwegs war, konnte er im Verlaufe des folgenden Jahres Lebensmittel mitbringen, die nicht kontaminiert waren. In der für viele Bevölkerungsschichten unsicheren Situation fingen viele Menschen an, Jod in zu hohen Dosen zu sich zu nehmen, um ihre Schilddrüse zu schützen. Dadurch kam es zu unglaublich vielen Jodvergiftungen. Gemeinsam mit einigen Ärzten wollte ich die Bevölkerung über notwendige Schutzmaßnahmen aufklären. Dies wurde uns aber vom Gesundheitsministerium strikt verboten. Acht bis zehn Jahre nach dem Reaktorunfall erkrankten sehr viele Kinder an Schilddrüsenkrebs, an dessen Folgen viele auch starben. Larissa Cherenkova, Trier

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