"Patient Deutschland", nur ein Märchen?

Berlin. Dem deutschen Intelligenzblatt "Die Zeit" verdanken wir nicht nur fundierten Journalismus in allgemeiner Form, sondern auch ungewöhnliche Perspektiven und Analysen zu Themen der Zeit.

Von besonderem Interesse in der aktuellen Ausgabe ist der Wirtschaftsteil, der sich mit einem "Mythos" beschäftigt, der seit Jahren die Nation beschäftigt: Der Mythos vom Abstieg eines Superstars. Die "Zeit"-Autoren zerpflücken dabei die Mär maßgeblicher Kreise aus Wirtschaft und Politik, Deutschland sei der kranke Mann Europas, ein dahinsiechender Dauerpatient, das Schlusslicht der EU. Und sie lassen einen Nobelpreisträger zu Wort kommen - der ausgerechnet dem linken Überzeugungstäter Oskar Lafontaine Recht gibt und dessen Wachstumsrezepte ausdrücklich stützt."Nicht teurer als in den USA"

Während deutsche Wirtschaftsführer wie BDI-Präsident Michael Rogowski, BDA-Chef Dieter Hundt, DIHK-Präsident Ludwig-Georg Braun, und Spitzenpolitiker wie Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD), Fraktionsvize Friedrich Merz (CDU) oder Rainer Brüderle (FDP) nicht müde werden, den angeblich so miserablen Standort Deutschland, die hohen Löhne und die starren Gesetzesregelungen zu beklagen, zeichnet die "Zeit" ein etwas anderes Bild. Illustriert mit Grafiken wird eine Geschichte erzählt, die so gar nicht zur Befindlichkeit der Nation zu passen scheint. Sie widerspricht in grundsätzlicher Art den oftmals interessegeleiteten "Multiplikatoren", die in den Medien ein breites Echo finden und so zur Meinungsbildung des Volkes beitragen. Eine Meinungsbildung, die nach Ansicht Lafontaines auch dazu dienen soll, "neoliberales Gedankengut" wieder hoffähig zu machen. Die Kernthesen der "Zeit": Der Standort D. ist nach wie vor attraktiv. Seine Wirtschaft ist absolut wettbewerbsfähig, seine Arbeitnehmer fleißig, die Infrastruktur hervorragend, die Technologie Weltspitze. Auch sei keineswegs die hohe Staatsquote schuld an der Misere (Sachverständigenrat Professor Peter Bofinger: "Ein Zusammenhang zwischen Staatsquote und Wachstumsraten ist äußerst zweifelhaft"). Nicht mal die üppige Sozialleistungsquote könne verantwortlich gemacht werden: Würde diese aus dem Staatssektor heraus gerechnet, wäre der Staat "nicht teurer als in den USA" (Ökonom Ronald Schettkat). Auch im Falle einer Privatisierung der Sozialversicherungen wäre nicht viel gewonnen: Dann müssten die Menschen das Geld, das jetzt automatisch vom Lohn abgezogen wird, eben auf anderem Wege für ihre Absicherung investieren - bei oftmals schlechteren Leistungen. Eine differenzierte Betrachtung erfordere auch der Arbeitsmarkt, meinen die "Zeit"-Autoren. Die hohe Arbeitslosenzahl (4,5 Millionen) sei einmal auf die gestiegene Erwerbsneigung zurück zu führen; zum zweiten auf die Weltwirtschaftskrise, welche die Jobmaschine gestoppt habe. Und: Seien in den 90-er Jahren im Westen Deutschlands trotz Flächentarif und Kündigungsschutz zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden, sei die Zahl der Jobs in den neuen Ländern aber gesunken - trotz niedrigerer Löhne und ausgehöhltem Flächentarif. Die deutsche Wachstumsschwäche, so die "Zeit", sei im wesentlichen "drei Schocks" zu verdanken, die in der öffentlichen Debatte nicht hinreichend gewürdigt würden: Der Wiedervereinigung, dem Euro, der Bankenkrise. Begründung: Der Euro habe den Zinsvorteil der alten Leitwährung D-Mark zunichte gemacht. Zusätzlich - die Geldpolitik ist kompliziert - leide die deutsche Wirtschaft unter höheren Realzinsen als die europäische Konkurrenz, weil die Inflation hierzulande vergleichweise niedrig sei. Wachstum braucht nun mal Investionen, und Investitionen Kredite.Restriktive Kreditpolitik der Banken

In Deutschland aber, das belegten die Zahlen der Bundesbank, sei das Kreditvolumen regelrecht abgestürzt, auch wegen der restriktiven Kreditpolitik der Banken. Auf jeden Fall, zitiert das Blatt den Würzburger Finanzexperten Bofinger, sei die Hoffnung von einem "Wachstum durch Sparen" nicht nur trügerisch, sondern auch gefährlich: Mit dieser Politik des EU-Riesen Deutschland könne "ganz Euroland" destabilisiert werden. Ausführlich lässt die "Zeit" den amerikanischen Wachstumsforscher und Nobelpreisträger Robert Solow zu Wort kommen, der den Predigern des Sparens und Streichens die Leviten liest. Es sei "unvorstellbar", dass deutsche Politiker den Arbeitnehmern zuriefen: "Ihr allein müsst durch Lohnverzicht die deutsche Wirtschaft retten, weil wir durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt gehindert sind." Diesen Pakt müsse man notfalls "loswerden", ferner die Geld- und Fiskalpolitik expansiv gestalten, damit mehr Jobs entstehen und die Menschen "die Härten der Arbeitsmarktreformen bereitwilliger ertragen". Denken und Handeln der Verantwortlichen in Deutschland seien jedenfalls "dogmatisch". Schöner hätte es Oskar Lafontaine auch nicht sagen können.

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