Per Du oder per Sie?

TRIER. Typisch deutsch - was ist dran am Klischee von der Lederhosen- und Biertrinker-Nation? In einer wöchentlichen Kolumne lässt der TV Ausländer zu Wort kommen, die meist seit Jahren bei uns leben. Sie nehmen die kleinen, aber feinen Unterschiede auf die Schippe. Autorin heute: die gebürtige Peruanerin Martha Scheurer.

Silvesterparty bei Freunden. Frohe, ausgelassene Stimmung. Karnevalsfeier mit ideenreich maskierten Freunden. Man lacht, tanzt und schwingt sich zur Polonaise durch den Raum. Oder: Ein nettes Abendessen für vier Paare bei Freunden. Es wird gut gegessen und getrunken, man amüsiert sich und unterhält sich rege über Gott und die Welt. Wunderbar! Denkste. Obwohl die Gäste sich seit Jahren kennen und sich immer wieder bei vielfältigen Veranstaltungen und Einladungen sehen, bewahren sie Distanz. Ich muss sagen: typisch deutsch! Während eines solchen schönen Abends kommt es oft vor, dass man sich mit dem Ehepaar zur Linken locker "dutzt" und mit dem zur Rechten den ganzen Abend das höfliche, distanzierende "Sie" pflegen muss. Dieses Verhalten ist üblich in unserer deutschen Gesellschaft, jedoch für andere Kulturen völlig unverständlich. Eine schwer zu bewältigende Aufgabe für jemanden, der mit anderen Sitten aufgewachsen ist. Lockerer, freundlicher und vertraulicher Umgang miteinander - also für mich das DU - bedeutet nicht intime Nähe, Gefahr des Unhöflichseins oder Respektlosigkeit. Warum hat man in Deutschland diese panische Angst vor dem Gebrauch des lockeren DU? Es wird nur nach "reiflicher Überlegung" angeboten. Und wenn es dann endlich soweit ist, dann darf diese lustige, eigenartige - ebenfalls typisch deutsche - Prozedur nicht fehlen: Zwei Gläser mit Sekt müssen her! Die rechten Arme werden umeinander geschlungen, gleichzeitig wird geprostet, man nimmt ein Schluck zu sich und muss dabei höllisch aufpassen, dass die Hälfte der Flüssigkeit nicht auf die Abendgarderobe fließt. Und dann kommt erst das Stärkste: Nachdem man sich jahrelang "gesiezt" hat, muss man sich plötzlich küssen! Aber nicht ein einfacher Wangenkuss, oh nein. Ein Kuss auf dem Mund ist erwünscht und erforderlich, um Brüderschaft zu schließen. Erstaunlich, diese plötzliche Vertrautheit. Ich nehme es weiterhin locker und bin meistens diejenige, die nach Gefühl und Sympathie das DU anbietet, wobei dazu ein Lächeln und ein Zuprosten als Begleitprozedur völlig reichen. Auf dieser Weise macht das menschliche Miteinander viel mehr Spass. Und mein Mann wird deshalb weiterhin noch so manches Mal völlig verwundert fragen: "Seit wann bist du mit Frau oder Herr Soundso per DU? MARTHA SCHEURER (53) ist geboren und aufgewachsen in Lima in Peru. Seit elf Jahren ist sie mit einem Deutschen verheiratet, lebt in Trier und ist mittlerweile eingebürgert. Sie ist Erzieherin und Hausfrau. Foto: Willi Speicher

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