Protokoll des Horrors

TRIER. Vor einem Jahr wurden Gewalt-Exzesse an einer Hildesheimer Berufsschule bekannt: Monatelang quälten Mitschüler einen 18-Jährigen. Ein Beamter des niedersächsischen Landeskriminalamtes (LKA) schilderte bei einer Experten-Tagung an der Katholischen Akademie in Trier die Tat.

Es liest sich wie das Drehbuch zu einem schlechten Film: Im Blaumann wurde er unter die Dusche gestellt. Vor laufender Kamera sollte der 18-Jährige masturbieren. Er wurde mit Fäusten geschlagen, am Kopf getreten, mit Schraubenziehern traktiert - mal auf dem Schulhof, mal in einem Werkraum, dann auf der Toilette. Und das regelmäßig, immer mittwochs und donnerstags, weil da wenige Lehrer da waren, keine Aufsicht, die etwas hätte merken können. Dem 18-Jährigen wurde ein Bein gestellt, dann wurde in blinder Wut auf den am Boden liegenden eingeprügelt. Alles aufgenommen mit der Videokamera oder einem Fotohandy. Die Quälereien wurden ins Internet gestellt. Doch verhindert hat sie keiner. Ein halbes Jahr lang wurde der 18-jährige Berufsschüler an der Hildesheimer Werner-von-Siemens-Schule von elf Mitschülern misshandelt. Ein Fall, der bundesweit für Schlagzeilen sorgte und die Diskussion über Gewalt an Schulen neu anheizte.Täter galten als unbescholten

Schweigend, kopfschüttelnd, fassungslos hören die Lehrer, Polizisten und Richter auf der Katholischen Akademie Winfried Bodenburg zu, als er in fast schon quälerischer Langsamkeit Details aus den Ermittlungsakten vorliest. Ein Protokoll des Horrors. Erst nach ein paar Minuten fassen sich die Zuhörer, stellen Fragen: "Wie konnte es dazu kommen?", "Warum hat niemand etwas mitbekommen?" Plausible Antworten darauf gibt es auch ein Jahr nach dem unfassbaren Gewalt-Exzess an der Hildesheimer Schule nicht. Die meisten der 17 Jahre alten Täter galten bis dahin als unbescholten: keine Vorstrafen, keine besonderen Auffälligkeiten. Sie waren alle ohne Schulabschluss, galten als notorische Schulschwänzer - die typischen Schulversager. Aber keine klassische kriminelle Karriere, allenfalls als Ladendiebe tauchte der ein oder andere der Gang in den Polizeiakten auf. Keiner der elf stand in der Schule auf der Kippe: Sie hatten gute Noten, der Abschluss war bei keinem gefährdet. Vieles deute darauf hin, so der LKA-Mann, dass zu Hause etwas schiefgelaufen sein müsse. Einer hatte nicht verkraftet, dass sich seine Eltern getrennt haben, zwei sind Russland-Deutsche und hatten offensichtlich Probleme bei der Integration. Die Tagungsteilnehmer sehen darin allenfalls einen Erklärungsversuch. "Es muss doch Gründe dafür gegeben haben." Immer wieder bohren sie nach. Doch Bodenburg kann nicht mehr an Fakten liefern, lässt sich nicht auf Spekulationen ein.Opfer ertrug alles ohne Schreie

"Wieso ist das Ganze so lange unentdeckt geblieben?" Niemand der Zuhörer kann wirklich glauben, dass sich eine solche Gewaltorgie ein halbes Jahr lang abgespielt haben soll, ohne dass Lehrer, Schüler oder Eltern irgendetwas mitbekommen haben sollen. So sei es aber gewesen, sagt der Polizist vorne auf dem Podium.Neben dem Werkraum, in dem der 18-Jährige gequält worden sei, hätte sogar immer ein Lehrer gesessen, nur getrennt durch eine Milchglasscheibe. Ihm habe nicht nachgewiesen werden können, dass er etwas gewusst habe. Das Opfer habe die Pein offenbar still, ohne Schreie, ertragen. Die Milchglasscheibe sei mittlerweile entfernt worden, auch gebe es Aufsichten vor den Toiletten, an einigen Stellen sind Video-Kameras in der Schule montiert worden: "Ein Trugschluss, dass mit Kameras so etwas verhindert werden kann", glaubt Bodenburg. Warum das Opfer die Schläge, Tritte, die Demütigungen so lange ertragen hat, ohne einem Lehrer oder seiner Mutter etwas zu sagen, ohne dass sie etwas von den Verletzungen mitbekommen haben sollen, das liegt für Bodenburg im Dunkeln. Offenbar habe er kein Vertrauen zu seinen Lehrern gehabt, selbst der Vertrauenslehrer wusste von nichts. Erst der Schulsozialarbeiterin offenbarte er sich, sie ermutigte ihn, Anzeige zu erstatten. Vier Wochen ermittelte eine 17-köpfige Sonderkommission Tag und Nacht, vier Monate später wurde verhandelt. Vier Täter mussten ins Gefängnis, die anderen erhielten Bewährung. Und das Opfer? Der 18-Jährige hat noch Schlafstörungen, ein Psychologe betreut ihn: "Die Prellungen heilten schnell, doch am Trauma wird er noch lange leiden."

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