Reiches, armes Land

Berlin . Deutschland gehört zu den reichsten Nationen der Erde. Trotzdem nimmt die Armut zu, verstärkt auch die von Kindern.

Die Folge dieser dramatischen Entwicklung: Armut verschlechtert die Bildungschancen von immer mehr Kindern "in erschreckendem Maße". Jeder zweite Hauptschüler ist arm, aber nur jeder elfte Gymnasiast. Arme Kinder leiden zudem unter starken Störungen ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Das sind einige Ergebnisse der ersten deutschen Langzeitstudie über Kinderarmut in Deutschland, die gestern in Berlin von der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik vorgestellt wurde. Wilhelm Schmidt, Awo-Bundesvorsitzender: "Die eigentliche Bildungsmisere in Deutschland hat ganz offensichtlich nichts mit Leistung zu tun, sondern zunächst einmal mit Chancen." Die Studie, die von 1999 bis 2004 durchgeführt wurde, belegt erstmals den direkten Zusammenhang zwischen Armut und dem schulischen Bildungsweg bis zum Ende der Grundschulzeit. "Kindern, die arm sind, bleiben immer öfter zukunftssichernde Bildungswege verschlossen", mahnte Schmidt. Von 100 Kindern, die in ihrer Kindergartenzeit als arm galten, schafften nur vier später den Sprung aufs Gymnasium. Bei den "nicht-armen" Kindern seien es 30. Es wiederholten dreieinhalb Mal so viele arme wie "nicht-arme" Kinder bereits in der Grundschule eine Klasse. Kinder in Ein-Eltern-Familien, also Alleinerziehende, ereile dieses Schicksal etwa doppelt so oft wie Kinder aus Zwei-Eltern-Familien. Kinder mit Migrationshintergrund, wenn also ein oder beide Elterteile ausländischer Herkunft sind, seien weitaus häufiger vom Sitzenbleiben in der Grundschule betroffen als solche ohne Migrationshintergrund. Die Wahrscheinlichkeit einer schlechten Schulkarriere steige zudem mit der Armutsdauer stark an. Bei armen Kindern, die am Ende der Grundschule gleich gute Schulnoten aufwiesen wie "nicht-arme" Kinder, sei die Wahrscheinlichkeit niedrig, dass sie ein Gymnasium besuchen dürften. Erschreckend sei dabei, dass die Armut der Familie sogar die Bewertung der Lehrer beeinflusse. Die Forscher fanden auch heraus, dass sich ein frühzeitiger und kontinuierlicher Besuch von Kindertagesstätten (Kita) spätestens ab dem dritten Lebensjahr sehr positiv auf die Schulkarriere auswirkt. 29 Prozent der Kinder, die spätestens mit drei Jahren in die Kita kommen, erreichten das Gymnasium, während es bei den Kindern mit einem späteren Kita-Besuch nur 21 Prozent seien. Schmidt: "Eine Hauptforderung, die sich aus der Studie ergibt, ist, dass die Betreuungsmöglichkeiten schon für Kinder unter drei Jahren erheblich ausgebaut werden müssen. Das gilt auch für die individuelle Förderung." Kindergartengebühren gehörten zudem ganz abgeschafft. Kinder aus armen Familien weisen laut Studie zudem erhebliche Defizite in ihrer Persönlichkeitsentwicklung auf. Besonders stark zeige sich dies im "kindlichen Bewältigungsverhalten", etwa beim Austragen von Konflikten.Eltern sind häufig überfordert

Das Vertrauen in die eigenen Handlungsmöglichkeiten sei oft erschreckend gering ausgeprägt. Beim Umgang mit Trauer zeichne sich ein ähnlich negatives Verhaltensmuster ab. Die Kinder redeten nicht darüber, sondern zögen sich ,,sehr schnell in sich selbst zurück". Emotionale Befindlichkeiten würden bei ärmeren Kindern deutlich weniger offen gezeigt "als bei Kindern im Wohlergehen". Arme Kindern hätten in aller Regel auch deutlich eingeschränkte Hobby- und Freizeitaktivitäten im Vergleich zu ihren Schulkameraden. Darunter litten sie sehr. Sie würden auch weniger gelobt, körperliche Bestrafung käme dagegen häufiger vor. Das Verhalten der Eltern präge die Kinder. Viele arme Eltern seien im täglichen Leben allein durch die Sicherung ihrer Grundbedürfnisse "sehr häufig ziemlich überfordert und gestresst". Laut AWO-Chef Schmidt ist nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch die Ausweitung des Niedriglohnsektors mit dafür verantwortlich, dass die Kinderarmut in Deutschland zunimmt. Schmidt kündigte an, dass es demnächst ein Gespräch mit Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen über die alarmierenden Ergebnisse der Studie geben werde.

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