Schärfere Töne

Angela Merkel reagierte zweimal prompt: Am Freitag griff sie zum Telefon und rief Kurt Beck an, um ihm zu seiner Wiederwahl als SPD-Chef zu gratulieren. Eine Pflichtübung. Am Sonntagnachmittag dann, als die Genossen gerade Hamburg den Rücken gekehrt hatten, setzte sich die CDU-Vorsitzende schnell vor die Fernsehkameras, um per Interview die Ergebnisse des SPD-Parteitages zu kommentieren.

Berlin. Kalkül nennt man das: Angela Merkel wollte dem auf dem Parteitag gestärkten Koalitionspartner gleich wieder ein wenig Wind aus den Segeln nehmen. Das geht, das geht nicht, bewertete Merkel die SPD-Beschlüsse - "provinziell" war wohl die schärfste Attacke, die eine milde Kanzlerin gegen die Genossen ritt. Für deutlichere Worte waren andere zuständig.Die Beschlüsse verhageln allenfalls die Stimmung

"Beim Grundsatzprogramm verfällt die SPD ins Steinzeitalter zurück", wetterte CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla. Der Wahlkämpfer Roland Koch, hessischer Ministerpräsident, mäkelte, dass sich die SPD aus ihrer Verantwortung als Regierungspartei stehle - und überhaupt, der Parteitagsbeschluss für ein Tempolimit auf Autobahnen von 130 Kilometern in der Stunde habe nichts mehr mit der Realität zu tun. Wenn man es nicht besser wüsste, käme man angesichts der verbalen Angriffe nicht auf die Idee, dass Union und SPD das Koalitionsbett teilen. Die Beschlüsse der Sozialdemokraten sind es weniger, die die Vertreter der Union beunruhigen - sie verhageln zwar die Stimmung, die Große Koalition ist aber darin geübt, ungeliebte Kompromisse zu schließen. CDU und CSU treibt eine grundsätzlichere Sorge um: Die Besinnung der SPD auf ihre linke Tradition und auf die soziale Frage "ist eine neue Ausrichtung, die wir genau beobachten müssen, die nicht ohne Folgen für die Koalition bleiben wird", resümiert ein hochrangiger CDU-Mann. Andere warnen offen: "Gysi und Lafontaine werden beim Umverteilen immer mehr versprechen als die SPD", sagt CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer. Und CDU-General Pofalla stichelt: "Wir haben in Deutschland genug Sozialismus erlebt." Im Koalitionsausschuss am kommenden Sonntag dürfte die Union zumindest zu spüren bekommen, dass der Hamburger Parteitag den Genossen neuen Schwung und neues Selbstbewusstsein eingeflößt hat. Darauf hat man sich eingestellt. Auch die umstrittene Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I wird dann auf dem Programm stehen, allerdings will man zunächst nur die Standpunkte austauschen. Warten auf die Steuerschätzung

Erst am 12. November wird das Thema dann ganz oben auf der Tagesordnung des Koalitionsausschusses zu finden sein. Aus gutem Grund. Es gebe "generell gute Aussichten, miteinander voranzukommen", so Regierungssprecher Ulrich Wilhelm vielsagend. Auch er weiß, dass zwischen beiden Treffen die neuesten Zahlen der Steuerschätzung auf den Tisch der Koalitionäre flattern werden. Bislang wollte die Union eine längere ALG-I- Zahlung nur ohne Mehrkosten - also durch Kürzungen an anderer Stelle - akzeptieren. Das Wort "aufkommensneutral" nehmen Vertreter der C-Parteien inzwischen aber auffällig seltener und vor allem weniger absolut in den Mund. Man möchte das Thema möglichst bereinigen, bevor die Landtagswahlkämpfe richtig starten. Die Steuerschätzer und ihre Ergebnisse könnten dabei durchaus entscheidend behilflich sein. Meinung Angela Merkels Kaninchen Wetten, dass der Streit innerhalb der Großen Koalition um die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I schneller erledigt sein wird, als man angesichts der heftigen Debatten im Vorfeld vermuten konnte? Angela Merkel wird daran größtes Interesse haben. Schließlich ist die Kanzlerin mächtig in die Defensive geraten. So schnell geht das in der Politik. Wochenlang niedergeschrieben, ist die SPD jetzt gefühlt obenauf. Die Genossen zeigen Kante, sie haben Merkel und die Union herausgefordert. Und zwar deutlich. Die CDU-Vorsitzende muss reagieren, sie muss jetzt sagen, was sie dem Linksruck der SPD entgegensetzt. Eine neue Situation für die großkoalitionäre Spielleiterin. Wenn die CDU Anfang Dezember ihren Parteitag veranstaltet, muss die Parteivorsitzende den Gegenentwurf präsentieren. Damit ist nicht das neue Wischiwaschi-Grundsatzprogramm gemeint, das in Hannover beschlossen werden soll. Es geht auch um die ganz persönliche Agenda Merkel. Welches Kaninchen wird Angela Merkel aus dem Hut zaubern? Der Parteitag im Dezember wird für die CDU-Vorsitzende wichtiger werden, als sie bisher geglaubt hat. nachrichten.red@volksfreund.deHintergrund Knackpunkte in der Koalition: Macht die SPD-Spitze ihre Ankündigung wahr, in der Koalition selbstbewusster aufzutreten, dann dürften auf das Regierungsbündnis schwierige Wochen zukommen. Ersten Aufschluss, was im Regierungsbündnis noch geht, dürfte das Koalitionstreffen am kommenden Sonntag geben. Ein Überblick über die Streitthemen: Arbeitsmarkt: Beim Arbeitslosengeld I gibt es zwei gravierende Unterschiede: Die SPD möchte den längeren Bezug an das Alter (ab 50 Jahre) koppeln, die Union an die Dauer der Beitragszahlung. Zudem sperrt sich die Union, mehr Geld für die verlängerten Zahlungen auszugeben. Offen sind auch die Aufstockung des Arbeitslosengelds II, die Neuordnung der Hinzuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Empfänger und die Zahlung von staatlichen Lohnzuschüssen für Niedriglohn-Jobs. Bahn-Privatisierung: Das Projekt steht nach dem SPD-Parteitagsbeschluss vor dem Scheitern. Wahrscheinlich wird die Koalition aber noch einmal einen Prüfauftrag erteilen, ob auch bei der Vergabe von Volksaktien die Bahn genügend Kapital erhält. Das war eines der Hauptziele der angestrebten Privatisierung. Erbschaftssteuer: Die Union war zuletzt verärgert über die stockenden Verhandlungen und Forderungen aus der SPD, dass die Reform zu einem deutlich höheren Steueraufkommen führen soll. Umwelt: Offen ist noch die Umsetzung des Klimaziels von der Kabinettsklausur von Meseberg. Danach soll Deutschland die Kohlendioxid-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent reduzieren. Zwischen den Ressorts ist umstritten, wie stark Wirtschaft und Verbraucher belastet werden sollen. Außenpolitik: Noch gilt sie als Feld der Harmonie. Kontroversen zwischen der Kanzlerin und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) etwa in der Menschenrechtspolitik zeichnen sich aber bereits ab. Innere Sicherheit: Ungelöst ist der Konflikt um die Online-Durchsuchungen. Sonstige SPD-Beschlüsse: Die Beschlüsse der SPD zur Änderung der Wehrpflicht, der Aufstockung des Kindergelds und zur Einführung von Tempo 130 auf den Autobahnen dürften den Koalitionsfrieden nicht ernsthaft gefährden, weil der SPD-Spitze klar ist, dass sie damit bei der Union nicht durchdringen wird.

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