„Schröder begeht Wortbruch“

BERLIN. Er sei nicht gegen Reformen, solange es die richtigen seien. Oskar Lafontaine, ehemaliger SPD-Vorsitzender und schlechtes Gewissen der Sozialdemokraten, kritisiert die Politik der rot-grünen Bundesregierung. Mit der Umsetzung der Agenda 2010, über die an diesem Wochenende auf dem Sonderparteitag der SPD entschieden wird, breche Kanzler Gerhard Schröder seine Wahlversprechen.

Herr Lafontaine, die SPD ist in der Krise, der Kanzler kämpft mit seiner eigenen Partei. Was läuft schief bei den Sozialdemokraten?

Lafontaine: Der Befund ist klar: Die Arbeitslosigkeit steigt, die Umverteilung von unten nach oben nimmt zu, soziale Leistungen und Renten werden gekürzt. Die Leute spüren, dass das keine sozialdemokratische Politik ist.

Ist die Politik der Koalition Ihrer Ansicht nach schon im Ansatz verkehrt, oder sind es die falschen Instrumente, mit denen Schröder die Probleme lösen will?

Lafontaine: In den ersten Monaten der Koalition, Oktober 1998 bis Frühjahr 1999, hat Rot-Grün klassische sozialdemokratische Politik gemacht. Entsprechend hatte sie auch die Zustimmung der Wählerschaft. Dann wechselte sie den politischen Kurs, mit dem Ergebnis, dass die Arbeitslosigkeit und die Schulden stiegen und die Zustimmung sank. Dadurch wurde die Regierungsfähigkeit der SPD in Frage gestellt.

Wenn Sie die Politik des Kanzlers kritisieren, heißt das, Sie bestreiten die Notwendigkeit von Sozialreformen?

Lafontaine: Nein, Sozialdemokratie ist immer für Reformen, aber für die richtigen. Die wichtigste Aufgabe ist die Reform des Rentensystems, das zum größten Teil über die Arbeit finanziert wird. Der Sozialstaat moderner Prägung muss aber über alle Einkommen, auch der Selbständigen und Beamten und der Vermögenseinkommen, finanziert werden. Diese Reform ist überfällig.

Das beantwortet nicht die Frage, ob Sie in den hohen Steuern und Sozialabgaben nicht das Kernproblem sehen, das es zu lösen gilt?

Lafontaine: Der eben erwähnte Reformansatz würde dazu führen, dass die Lohnnebenkosten systematisch sinken. Das führt zu mehr Wachstum und Beschäftigung, der beste Weg zur Sanierung der Haushalte und Sozialsysteme.

Das ist bekannt. Die Frage ist nur: Reicht das aus, um die Wirtschaft anzukurbeln?

Lafontaine: Dass die Konjunktur lahmt, ist Folge der falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Anfang der 90er Jahre wuchs die Wirtschaft noch um rund fünf Prozent. Ursache war die expansive Fiskalpolitik in Zusammenhang mit der deutschen Einheit. Die Finanzpolitik muss in einem konjunkturellen Tal das Wachstum ankurbeln. Solange man diesen Sachverhalt ignoriert, wächst die Wirtschaft nicht.

Sind Schröders Maßnahmen, also die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, die faktische Abschaffung der Arbeitslosenhilfe sowie die Privatfinanzierung des Krankengeldes komplett verkehrt, oder wäre eine sanftere Variante für Sie akzeptabel?

Lafontaine: Diese Maßnahmen sind deshalb indiskutabel, weil schon seit Jahren soziale Leistungen gekürzt und Arbeitnehmerrechte abgebaut werden. Dieser Weg führt zu einer Strangulierung der Binnennachfrage und damit zu Einbrüchen beim Wachstum.

Aber Sie wollen doch nicht bestreiten, dass die Steuerquote und die Sozialabgaben in Deutschland zu hoch sind?

Lafontaine: Die Steuerquote ist die niedrigste seit vielen Jahren, sie liegt bei 20,8 Prozent. Anfang der 80er Jahre lag sie bei 24,8 Prozent. Das heißt, es fehlen pro Jahr in den öffentlichen Haushalten Steuereinnahmen von 80 Milliarden Euro. Eine Erklärung dafür, warum Geld für öffentliche Investitionen fehlt. Die Sozialabgaben sind gestiegen, weil die Regierung Kohl den Fehler gemacht hat, die deutsche Einheit über die Sozialversicherungssysteme statt über Steuern zu finanzieren. Die Sozialbeiträge sind dadurch um drei Punkte gestiegen.

Ihre Logik heißt also: Höhere Steuern, Herausnahme der versicherungsfremden Leistungen aus den Sozialsystemen – dann sinken die Lohnnebenkosten und die Wirtschaft kommt in Schwung?

Lafontaine: Es ist immer problematisch, bei schwacher Konjunktur sogar falsch, die Steuern zu erhöhen. Allerdings gibt es Steuern, die das Verbraucherverhalten nicht verändern, etwa die Vermögensteuer. Kein Land hat sich in den letzten Jahren eine solche Umverteilung zugunsten der Vermögenseinkommen erlaubt wie Deutschland. Der erste Schritt wäre also, die Vermögensteuer wenigstens auf das OECD-Niveau anzuheben, um ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit zu erreichen.

Herr Lafontaine, hat Bundeskanzler Schröder Wortbruch begangen, hat er Wahlversprechen gebrochen?

Lafontaine: Wenn die Agenda 2010 umgesetzt wird, eindeutig ja.

Dann hätte der „Lügenausschuss“ eine Berechtigung?

Lafontaine: Der hat in der Politik fast immer Berechtigung. Auch der Kurswechsel der CDU-Vorsitzenden Merkel zum Irak-Krieg war Wortbruch, denn Kanzlerkandidat Stoiber hat im Wahlkampf noch die Verweigerung der Überflugsrechte für die USA erwogen.

Willy Brandt hat einmal gesagt: Jede Zeit braucht ihre eigenen Antworten. Heißt das nicht, dass sozialdemokratische Politik heute anders definiert werden muss als früher?

Lafontaine: Selbstverständlich. Aber Schröders Agenda hat mit sozialdemokratischer Politik nichts zu tun. Das sind uralte Forderungen der Unternehmerverbände. Zuerst übernimmt sie die FDP, dann die Union und jetzt auch die SPD. Die Unternehmerverbände formulieren aber bekanntlich keine sozialdemokratische Politik.

Was bedeutet diese Entwicklung für die Zukunft der SPD?

Lafontaine: Wenn die SPD Politik für die Arbeitnehmer und Rentner macht, hat sie immer die Mehrheit. Wenn sie sich gegen die Interessen dieser Bevölkerungsgruppen richtet, verliert sie ihre Idendität. Es ist bedauerlich, dass zahlreiche Sozialdemokraten deshalb die Partei verlassen. Dieser Prozess muss gestoppt werden.

Dann müssten Sie ja das Mitgliederbegehren der Kanzlerkritiker befürworten?

Lafontaine: Mitgliederbegehren sind richtig und sogar geboten, wenn ein Kurswechsel von oben verordnet wird. Ein Sonderparteitag, der dieser Politik eine Absage erteilt, könnte das Begehren aber überflüssig machen.

Das würde in der Konsequenz aber den Kanzlersturz bedeuten?

Lafontaine: Das vermag ich nicht zu beurteilen. Der Kanzler wäre jedenfalls gut beraten, sich an seine Wahlversprechen zu erinnern.

Die Fragen stellte unser Korrespondent Bernard Bernarding.

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