Schwere Jungs dürfen länger sitzen

MAINZ. Die Justiz-Pannen schlugen Wellen: Vier Geiselgangster mussten Ende 2002 in Trier aus der U-Haft entlassen werden, weil nach sechs Monaten noch keine Hauptverhandlung eröffnet war. Wenig später setzte das Oberlandesgericht wegen formaler Schlampereien drei Heroinhändler in Bad Kreuznach auf freien Fuß. Jetzt soll die Abkehr von starrenU-Haft-Vorgaben Abhilfe schaffen.

Untersuchungshäftlinge müssen künftig nicht mehr grundsätzlich nach sechs Monaten freigelassen werden, wenn sich ihr Verfahren und die Festsetzung einer Verhandlung verzögert. Ein vom Bundesrat angenommener rheinland-pfälzischer Gesetzentwurf sieht vor, dass bei Haftprüfungen die Schwere des Vergehens und bereits festgelegte Verhandlungstermine, die wenige Wochen über der Sechs-Monate-Frist liegen, berücksichtigt werden. Der Mainzer Justizminister Herbert Mertin bezeichnete seinen mit den anderen Ländern ausgehandelten Kompromiss als Ausgleich zwischen den Sicherheitsinteressen der Bevölkerung und den Freiheitsrechten der Beschuldigten. Der Bundestag muss dem Entwurf noch zustimmen.Bisher: Nach sechs Monaten U-Haft ist Schluss

Die spektakuläre Freilassung von nicht gerade als ungefährlich einzustufenden Geiselnehmern, die einen Trierer Geschäftsmann und seine Frau zu Hause überfallen hatten und Geld erpressen wollten, sorgte vor Weihnachten 2002 für Wirbel und Erklärungsnöte der Justiz. Die Verkettung von "unglücklichen Ereignissen" wie Urlaub, Reibungsverluste durch mehrere gleichzeitig zu bearbeitende Vorfälle und unübersichtliches Aktenmaterial führte laut Landgericht zu Verzögerungen. Disziplinarverfahren gegen einen Richter und eine Richterin wurden eingestellt. Die freigelassenen Männer aus dem Raum Karlsruhe, die vorher nicht als Kriminelle aufgefallen waren, tauchten ein halbes Jahr später zur Gerichtsverhandlung in Trier auf und wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt. Im Sommer 2003 hob das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz erneut Haftbefehle auf, diesmal gegen drei Rauschgifthändler in Bad Kreuznach, weil das zuständige Landgericht bei der Akteneinsicht für die Verteidiger schlampte. Bisher müssen Beschuldigte nach sechs Monaten aus der U-Haft entlassen werden, wenn noch keine Verhandlung stattgefunden hat und dafür keine wichtige Ausnahme vorliegt. Dem OLG bleibt in diesen Fällen rechtlich keine andere Wahl, als den Verdächtigen frei zu lassen - ohne Rücksicht auf seine Gefährlichkeit oder Fluchtgefahr.Künftig: Schwere der Tat muss berücksichtigt werden

Obwohl Mertin im Rechtsausschuss in beiden Affären persönliche Fehler von Richtern und nicht eine Arbeitsüberlastung der Justiz als Ursache der Pannen ausmachte, startete er ein Initiative gegen die starren zeitlichen Vorgaben bei der Untersuchungshaft. Es sei nicht weiter hinzunehmen, dass dringend Tatverdächtige automatisch nach sechs Monaten entlassen werden müssten, wenn das Verfahren verzögert wurde, so der Minister. Eine generelle Ausweitung der Untersuchungshaft lehnt er allerdings ab. Die rheinland-pfälzische Gesetzesvorlage sieht nun vor, dass ein Oberlandesgericht bei jeder Haftprüfung künftig die Schwere der Tat berücksichtigen muss. Erst dann soll es entscheiden, ob in dem Verfahren dem erforderlichen Beschleunigungsgebot entsprochen wurde. Zudem soll die Sechs-Monats-Frist ruhen, wenn ein Termin zur Hauptverhandlung innerhalb von zwei Monaten nach Ablauf des vorgegebenen Zeitrahmens anberaumt worden ist. Wenn das OLG die Aufhebung eines Haftbefehls anordnen will, soll der Generalstaatsanwaltschaft und den anderen Verfahrensbeteiligten zuvor Gelegenheit zurStellungnahme gegeben werden. Damit sollen "Überraschungs-Entscheidungen" vermiedenwerden.

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