So weit weg

Als ich in der Tagesschau Tage danach (!) um 20 Uhr von einem Reaktorunglück in der Sowjetunion erfuhr, konnte ich mir nicht besonders vorstellen, was passiert war. Allerdings lebte ich damals in Neckargemünd, einer Kleinstadt, die in der Nähe ein Atomkraftwerk in Obrigheim hat und ich hatte schon Einiges darüber gelesen, nur in welchem Ausmaß - keine Ahnung.

Ich beschloss, meine kleinen Kinder am nächsten Morgen erst einmal nicht in den Kindergarten zu schicken und beauftragte unsere damalige Kinderfrau damit, sie im Haus zu beschäftigen. An meinem Arbeitsplatz angekommen, diskutierten wir Lehrer untereinander und tauschten uns aus, aber alles war ja so weit weg! In den folgenden Monaten achtete ich beim Einkaufen darauf, möglichst keine Pilze zu kaufen, kein Wild zuzubereiten und vor allem keine Produkte zu kaufen, die irgendwie aus dem süddeutschen Raum kamen - an das kann ich mich erinnern. Aber irgendwann geriet alles in Vergessenheit und der Alltag gewann die Überhand. Das änderte sich, als ich im Winter 1990 nach Troizk kam, einer Stadt in der Nähe von Moskau, in der damals noch viele Atomphysiker im Kurtschatow-Institut arbeiteten und mein Freund Professor Sergej Smirnov mir erzählte, dass er krank sei, da er in Tschernobyl "Dienst" habe tun müssen. Meine Gastfamilie, deren Familie aus Gomel kommt, berichtete mir von Schilddrüsenkrebserkrankungen der Familienmitglieder, die dort noch irgendwo wohnten. Das hat mich dann wieder so in Bann genommen, dass ich zu Hause oft darüber nachgedacht habe, was und wie wir alle essen in Deutschland und auch die Tatsache der Verdrängung, dass niemand eigentlich mehr davon sprach was damals passiert ist. In den letzten Wochen habe ich mit meinen Schülern ganz bewusst das Buch "Die Wolke" von Gudrun Pausewang gelesen und auch den Film im Vergleich angesehen. Gerade bereiten wir eine Umfrage der Eltern vor, wie sie damals das erlebt haben, da die Schüler heute von der Zeit kaum etwas wissen. Auch werden wir eine Ausstellung und Präsentation am 26. April in unserer luxemburgischen Schule machen, um die anderen Klassen und Kollegen auf das Geschehen aufmerksam zu machen: damit die Opfer nicht vergessen werden. Da ich mich viel in russischen Krankenhäusern aufgehalten habe und auch die dort nicht immer so gut ausgestatteten Abteilungen und Apotheken gesehen habe, denke ich besonders an die Kinder, die heute krank werden und an das, was auf sie zukommt. Juliette Willinger-Rass, Trier

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