Spielraum im Reagenzglas

BERLIN. Auf leisen Pfoten ist ein Thema wieder aufgetaucht, das schon mehrfach leidenschaftliche Debatten erzeugt hat und nun abermals Emotionen auslöst. "Auf Bitten der Humboldt-Universität" hat Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) am Mittwoch vor Professoren und Studenten in Berlin ihre "Gedanken" zu "rechtspolitischen Fragen der Bioethik" vorgetragen.

Was sich so harmlos anhört, steckt voller Brisanz, hat die Ministerin doch nichts Geringeres getan, als eine - von Bundeskanzler Gerhard Schröder unterstützte - Wende in der Biopolitik einzuleiten. Die Interpretation, die Bundesregierung plane eine Aufweichung des Embryonenschutzes, stellte das Bundesjustizministerium allerdings in Abrede. Dies sei keineswegs geplant, sagte Zypries-Sprecherin Eva Schmierer vor der Bundespressekonferenz. Sie gestand jedoch zu, dass es Gegenstand der Grundsatzrede der Ministerin gewesen sei, die Frage nach der Menschenwürde eines Embryos in vitro aufzuwerfen."Damit werden Embryonen zu Material"

Dieser entscheidende Passus in der auf 15 Seiten niedergeschriebenen Rede ist durch Fettdruck hervor gehoben. Die Frage, ob bereits dem Embryo in vitro Menschenwürde zukomme, müsse man jedenfalls "besonders sorgfältig prüfen", sagte die Verfassungsministerin. Ihre Amtsvorgängerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) hat diese Frage bereits sorgfältig geprüft. Und ist dabei zu dem Urteil gekommen, dass die Menschenwürde vom ersten Moment menschlichen Lebens, also der Befruchtung des Eis durch die Samenzelle, Bestand habe. Zypries dagegen ist der Ansicht, dass dem Embryo in der Petrischale eine wesentliche Voraussetzung (nämlich der Mutterleib) dafür fehle, sich "aus sich heraus" zum Menschen zu entwickeln. Gewiss sei ein Embryo im Reagenzglas "kein beliebiger Zellhaufen, über den Eltern, Mediziner und Forscher nach Gutdünken verfügen könnten". Gleichwohl reiche die "abstrakte Möglichkeit", sich in diesem (oben genannten) Sinne zu entwickeln, "für die Zuerkennung der Menschenwürde nicht aus". Zypries vertrat die Auffassung, dass dem Gesetzgeber bei der Wahrnehmung seines Schutzauftrags "ein Spielraum" verbleiben müsse. Es war klar, dass eine kommentierende Stellungnahme der Opposition nicht lange auf sich warten lassen würde. Die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Maria Böhmer, widersprach der Darstellung, wonach es in dieser elementaren Frage einen Spielraum gäbe und warnte davor, im Reagenzglas gezeugten Embryonen die Menschenwürde abzusprechen. "Damit werden Embryonen zu Material", betonte die CDU-Politikerin. Jedem Ansinnen, den Embryonenschutz in Deutschland auszuhöhlen, werde man sich widersetzen. Ähnlich äußerten sich CDU-Vize Christoph Böhr ("Zu diesem Tabubruch darf es nicht kommen") und der CDU-Abgeordnete Hubert Hüppe ("bioethischer Offenbarungseid"). Auch der grüne Fraktionsvize Reinhard Loske meinte kritisch, das Embryonenschutzgesetz sei "keinesfalls novellierungsbedürftig". Dagegen liegt die forschungspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Katharina Reiche, wie viele andere Abgeordnete quer durch die Fraktionen, auf der Linie der Ministerin. Tatsächlich sehe das Grundgesetz einen abgestuften Lebensschutz vor.Kanzler teilt Auffassung seiner Ministerin

Deshalb könne man die Nichtimplantation eines Embryos durchaus mit einer (rechtlich zulässigen) Spätabtreibung vergleichen, betonte Reiche am Mittwoch in Berlin. Es sei daher dem Gesetzgeber überlassen, einen abwägenden Ausgleich der kollidierenden Grundrechte vorzunehmen. Unterstützt wurde sie von der Vorsitzenden des Forschungsausschusses Ulrike Flach (FDP), die die Grenzen des Gesetzes im Interesse der Forschung ausweiten möchte. Regierungssprecher Bela Anda sagte dazu vor der Presse, der Kanzler teile die Auffassung seiner Ministerin. Er habe auch stets zwischen reproduktivem und therapeutischem Klonen unterschieden und halte letzteres unter bestimmten Bedingungen für vertretbar. Auf jeden Fall sei der Kanzler an einer Diskussion über "die richtige Grenzziehung zwischen Embryonenschutz und Forschungsfreiheit" interessiert. Die hat mit dem gestrigen Tag zweifelsfrei begonnen.

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