Still, unauffällig, Buchhalter - Suche nach dem Motiv des Todesschützen von Las Vegas - Waffendebatte neu entflammt

Las Vegas · Nichts von dem, was man bislang weiß über das Leben Stephen Paddocks, trägt wirklich zur Erhellung bei, was den 64-Jährigen dazu brachte, von einer Hotelsuite in Las Vegas auf Konzertbesucher am Strip zu schießen und Dutzende Menschen zu töten und Hunderte zu verwunden.

Ein stiller Buchhalter, unauffällig und ein wenig kontaktscheu, sagen Bekannte über Stephen Paddock. Seit Kurzem pensioniert, lebte er in einer Rentnerkolonie in der Nähe eines Golfplatzes in Mesquite, einer Kleinstadt in der Wüste Nevadas, gut eine Autostunde nordöstlich von Las Vegas. Sein Bruder Eric beschreibt ihn als wohlhabenden Mann.

Allein in Nevada soll er zwei Wohnungen besessen haben, eine in Mesquite, die andere in Reno, der Casinohochburg, die so etwas ist wie ein kleineres, nicht ganz so glitzerndes Las Vegas. Mit seiner Lebensgefährtin sei er viel gereist, des Öfteren auf Kreuzfahrtschiffen über die Meere gefahren, erzählte Eric Paddock dem Sender CBS. Stephen habe Poker gespielt, mit hohem Einsatz. Einmal habe er ihn per SMS wissen lassen, dass er gerade 250 000 Dollar gewonnen habe. Über Spielschulden sei nichts bekannt gewesen, auch sonst gebe es nichts, was seine furchtbare Tat auch nur im Ansatz erkläre. Drogen, mentale Störungen, Alkoholprobleme, nichts davon treffe seines Wissens auf Stephen zu. Der Schock treffe ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, fügte Eric hinzu. "Es ist, als wäre gerade ein Asteroid auf unsere Familie herabgestürzt."

Nichts von dem, was man bislang weiß über das Leben Stephen Paddocks, trägt wirklich zur Erhellung bei. Nichts hilft auch nur ansatzweise zu verstehen, was den 64-Jährigen dazu brachte, von einer Suite im Hotel "Mandalay Bay" in Las Vegas auf Konzertbesucher am Strip zu schießen, an der legendären Amüsiermeile der Wüstenstadt mit ihren künstlichen Pyramiden, nachgebauten Eiffeltürmen und imitierten New Yorker Wolkenkratzern. Durch fanatische Ideen sei er nicht aufgefallen, betonen seine Brüder Eric und Patrick. Für irgendeine Ideologie habe er sich nie interessiert. Es fällt schwer, angesichts der bisher bekannt gewordenen Bruchstücke seiner Vita zu glauben, was die Terrormiliz Islamischer Staat verkündet: Dass Paddock, vor Monaten zum Islam konvertiert, einer ihrer "Soldaten" gewesen sei. Bisher gebe es keine Beweise, nach denen der Schütze Verbindung zu einer internationalen Terrororganisation hatte, kommentiert das FBI.

In den Achtzigerjahren arbeitete Paddock für ein Unternehmen, das heute zum Rüstungskonzern Lockheed Martin gehört. 2003 machte er seinen Pilotenschein, um Privatjets fliegen zu können. Was man inzwischen an Details aus seiner Biografie kennt, es führt alles nicht weiter. Das Rätselraten, Joseph Lombardo, der Sheriff von Las Vegas, bringt es auf einen prägnanten Satz. "In die Gedankenwelt eines Psychopathen kann ich mich nicht hineinversetzen."

Fest steht wohl, dass das Massaker nicht dem spontanen Entschluss eines Amokläufers entsprang. Im Gegenteil, der Rentner hat sie akribisch vorbereitet. Nachdem er ein Zimmer im 32. Stockwerk des "Mandalay Bay" gemietet hatte, legte er dort ein regelrechtes Waffenlager an. Mindestens 23 Feuerwaffen, in mindestens zehn Koffern, so der Sheriff Lombardo, soll er nach und nach auf das Hotelzimmer gebracht haben, zumeist Gewehre, einige versehen mit Zielfernrohren. Mit einem schweren Gegenstand, womöglich einem Vorschlaghammer, zertrümmerte er Fensterscheiben, dann verschanzte er sich in der 32. Etage wie hinter den Zinnen einer Burg. Die halbautomatischen Waffen, die Paddock nach jetzigen Erkenntnissen benutzte, konnte er legal in Nevada erwerben, hätte sie jedenfalls legal dort erwerben können. Da er nicht vorbestraft war, stellte der Computerabgleich mit dem Strafregister, wie ein Waffenhändler mit Lizenz ihn vornehmen muss, für ihn keine Hürde dar. In seinem Haus in Mesquite seien neben Schusswaffen und Tausenden Patronen Sprengstoff gefunden worden, Tannerit und Ammoniumnitrat, teilte die Polizei mit.

Manches erinnert an Charles Whitman, der am 1. August 1966 im texanischen Austin vom Uhrenturm der Universität wahllos auf Passanten feuerte. Whitman, ein Ex-Student, der sich als Handwerker ausgab, war mit einer Kiste voller Gewehre im Aufzug in den 27. Stock des Turmbauwerks gefahren und zur Aussichtsplattform hinaufgestiegen, von wo er auf alles zielte, was sich unten bewegte. Seine Opfer nahm er nach dem Zufallsprinzip ins Visier, als wäre es eine Lotterie des Horrors. 96 Minuten lang schoss er, nach 96 Minuten hatte er 14 Menschen getötet, bis er selber von einem Polizisten aus nächster Nähe erschossen wurde. Wie Whitman verschanzte sich auch Paddock in großer Höhe, um das umliegende Gelände kontrollieren zu können, in diesem Fall das Konzertareal auf der anderen Seite des Las Vegas Strip. Doch während Whitman bei der Marineinfanterie gedient hatte und als erstklassiger Scharfschütze galt, ist von Paddock nichts dergleichen bekannt. Weder habe er einen "militärischen Hintergrund", noch sei er als Waffennarr aufgefallen, sagt sein Bruder Eric. Der Vater, Patrick Paddock, stand einst auf der Liste der "Ten Most Wanted", mit deren Hilfe das FBI nach den zehn meistgesuchten Straftätern fahndete. 1961 war der Senior nach einer Serie von Banküberfällen zu 20 Jahren Haft verurteilt worden, 1968 aus dem Gefängnis geflohen. Seine drei Söhne hätten praktisch nichts von ihm gehabt, heißt es in amerikanischen Medienberichten. Aber was tragen solche Informationsfetzen schon bei zur Suche nach dem Motiv?

Wie es häufig der Fall ist nach einem solchen Verbrechen, ist in Washington eine Waffendebatte in Gang gekommen, ein Diskurs, dem Skeptiker prophezeien, dass er sich schon bald im Sande verlaufen wird. "Das muss aufhören", fordert der Demokrat Chris Murphy, ein Senator aus dem Neuenglandstaat Connecticut. In den USA seien Massenschießereien zu einer Epidemie geworden. Ihn packe die Wut, wenn er sehe, wie ängstlich sich viele seiner Kollegen bor der Waffenlobby wegduckten, vor einer Lobby, die regelmäßig zum Spendenscheck greife, um die Kongress-Wahlkämpfe zu finanzieren, vor allem jene der Republikaner. "Sie haben solche Angst, dass sie behaupten, es könne keine politischen Antworten auf diese Epidemie geben", wettert Murphy. Es gebe sie aber, und die Gebete von Politikern hörten sich auf brutale Weise hohl an, wenn ihnen nicht endlich Gesetze gegen den Waffenwahn folgten.

Allerdings glaubt kaum jemand, dass nun ein Ruck durchs Parlament geht und es Leuten wie Murphy gelingt, den Senat zum Handeln anzustacheln. In der jüngeren Vergangenheit ist noch jeder Anlauf zu einer Verschärfung der Waffengesetze am Widerstand von Volksvertretern gescheitert, die sich auf den zweiten Zusatzartikel zur Verfassung berufen. Auf jenes 1791 beschlossene "Second Amendment", welches das Recht auf privaten Waffenbesitz garantiert, einer Logik folgend, nach der es die Milizen freier Bürger sind, die die junge Demokratie notfalls vor der Tyrannei retten. Nicht einmal im Dezember 2012, als die Nation nach dem Mord an 20 Erstklässlern in einer Grundschule in Newtown schockiert war wie nach kaum einem anderen Amoklauf, vermochte der Kongress den Trend zur privaten Aufrüstung umzukehren. Zu mächtig war die Stimme Wayne La Pierres, des Sprechers der National Rifle Association (NRA), der verlangte, vielmehr die Schulen umgehend aufzurüsten. "Der Einzige, der einen bösen Kerl mit einer Knarre stoppen kann, ist ein guter Kerl mit einer Knarre", wiederholte er eine Standardfloskel. Auch im Juni 2016, als ein Einwanderersohn namens Omar Mateen in einem Schwulenclub in Orlando 49 Menschen tötete, blieb alles beim Alten. Immerhin residierte damals mit Barack Obama ein Präsident im Weißen Haus, der sich darüber beklagte, wie einfach es sei, an Flinten zu kommen. Sein Nachfolger Donald Trump hat das Wort Waffenkontrolle in den Stunden nach dem Schrecken von Las Vegas weder erwähnt, noch lässt seine Vorgeschichte erwarten, dass er sich für strengere Regeln ins Zeug legen wird. Im Duell gegen Hillary Clinton zählte auch die NRA zu Trumps Stützen, und deren rund fünf Millionen Mitgliedern hatte er auf Wahlkampfbühnen versprochen, am Status quo in keiner Weise zu rütteln.

Der scheinbar festgezurrte Status quo: Wie ihn James Fallows skizziert, ein hochangesehener Kolumnist der Zeitschrift "The Atlantic", klingt es resigniert - und zugleich sarkastisch. Es gebe zwei dunkle Wahrheiten, schreibt Fallows. Erstens werden man diese Schießereien nicht stoppen, "es wird weitergehen, wir alle wissen das, was die unmittelbare Woge der Trauer noch schlimmer macht". Zweitens sei jedem klar, "dass sich alles an der Berichterstattung und den politischen Reaktionen ändert, wenn sich herausstellt, dass der Killer ‚bloß‘ ein weißer amerikanischer Mann ist, dessen Name nicht nach einem Migranten klingt". Man stelle sich vor, der Name des Täters hätte einen arabischen Klang, dann wäre dies jetzt eine neue Episode des Dschihad. Hätte es sich bei dem Schützen um einen Mexikaner gehandelt, wären sofort die Gefahren der Immigration an die Wand gemalt worden. "Und wäre es ein Schwarzer gewesen, dann zittere ich bei dem Gedanken, mir die Folgen vorzustellen."

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