Tom Sawyer hat ausgedient

TRIER. Lehrerinnen benachteiligen Jungs - an dieser Behauptung von Soziologen scheiden sich die Geister. Fakt ist: Der männliche Nachwuchs hat es heutzutage schwer. Und zwar nicht nur in der Schule.

Wann ist ein Mann ein Mann? Herbert Grönemeyer war einer derersten, der diese Frage stellte. Die Antwort ist auch 20 Jahrespäter noch nicht gefunden, und das belastet nicht nur diePsychen erwachsener Vertreter des starken Geschlechts. Vor allemder Nachwuchs hat seine liebe Not mit unklaren Erwartungen undfehlenden Vorbildern. Mädchen, schreibt die Geo-Redakteurin Johanna Romberg, dürften alles sein - besonders gern das, was ehemals Jungs zugeschrieben worden sei. "Aber was ist ein typischer Junge?" Ihre These: "Jungen zu erziehen ist schon deshalb ein heikleres Geschäft, weil nicht von vornherein klar ist, was am Ende dabei herauskommen soll." Wer früher als "richtiger Junge" gegolten habe, ecke heute als Macho und Hahnenkämpfer an.

Zum Beispiel bei Grundschullehrerinnen, meinen die Autoren der jetzt in die Schlagzeilen geratenen Leipziger Studie um die Soziologin Heike Diefenbach, der Ende 2003 in der Zeitschrift für Pädagogikveröffentlicht wurde. Diefenbach & Co. gehen davon aus, dass Pädagoginnen die eigene geschlechtsspezifische Sozialisation als Maßstab heranziehen. "Lehrerinnen prägen die Schulkultur; möglicherweise erwarten und prämieren sie solche Verhaltensweisen, die Mädchen im Rahmen ihrer Sozialisation einüben, Jungen aber nicht."

Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Rainer H. Lehmann beschreibt in der "Zeit" eine "schulkonformere Einstellung" von Mädchen: Sie seien pflegeleichter und angenehmer im Unterricht; Jungs dagegen erzwängen Aufmerksamkeit und würden deshalb häufiger als Störenfriede empfunden. Und das spiegele sich möglicherweise im Zeugnis wider.

Dass Jungs anders fühlen, denken und sich verhalten als Mädchen, ist unumstritten - anders als die Frage, ob diese Unterschiede angeboren oder anerzogen sind. Buben reagieren beispielsweise weniger auf Freude oder Ärger, sie zeigen weniger Mitgefühl. Sie kommen, da sind sich die Fachleute wieder weitgehend einig, mit Veränderungen in ihrem Umfeld generell schlechter zurecht. Eine Folge: Der männliche Nachwuchs hat bei Verhaltensauffälligkeiten wie Stottern oder Bettnässen die Nase weit vorn.

"Jungen sind anders", schreibt Sabine Etzold in der Zeit. "Sie leben stärker nach außen, körperlich wie seelisch. Folglich lernen sie anders und brauchen einen anderen Unterricht. Sie lernen weniger passiv, durch Zuhören, als durch eigene Aktionen und durch Experimentieren." Doch die Schule nehme auf Lernstile keine Rücksicht.

Zentrales Problem: das Lesen. Die Fähigkeiten auf diesem Gebiet sind das vielleicht wichtigste Kriterium für Schulempfehlungen überhaupt. Die Leselust prägt die Leistungen in der Schule nach Ansicht von Fachleuten stärker als die soziale Herkunft. Doch bei der Pisa-Studie war der Vorsprung der Mädchen beim Lesen durchschnittlich dreimal so hoch wie Vorteil der Jungen in Mathe. Vor allem beim Verständnis erzählender Texte geht die Schere zwischen den Geschlechtern auseinander. Betrachtet man dagegen nur die Buben und Mädchen, die gerne lesen, verschwindet der Unterschied fast ganz.

Wie kommt's, das Jungs weniger lesen? Geo-Redakteurin Romberg hat beobachtet: "Noch vor kurzem stand den 46 Bücherserien speziell für Mädchen in deutschen Kinderbuchprogrammen nur eine einzige Kinderbuchserie mit männlicher Zielgruppe gegenüber." Doch vertiefen sich Jungs seltener in Bücher, weil es weniger Lesestoff für sie gibt - oder hält sich das Angebot in engen Grenzen, weil sie weniger lesen? Pädagogen sehen die Lösung in einer Kombination aus natürlichen und anerzogenen Faktoren.

Wie dem auch sei - sicherlich muss darüber nachgedacht werden, wie man den Buben in Sachen Unterrichtsmethoden entgegen kommen könnte. Das größte Problem der Jungs in unserer Gesellschaft indes löst das nicht nicht: der Mangel an einer Jungen-Identität, die offene Antwort auf die Frage, wann ein Mann ein Mann ist.

Auch da könnte Lesen weiterhelfen - meint Zeit-Autorin Sabine Etzold. Der Nachfolger wild raufender und damit mittlerweile wenig angesagter Figuren wie Kalle Blomquist und Tom Sawyer ist der Journalistin zufolge zumindest literarisch längst gefunden. "Widrigkeiten aushalten, Probleme mit Köpfchen, Kampfgeist und Freunden lösen, eine Sonderrolle spielen, ohne ein Angeber zu werden", beschreibt sie den modernen Jungen von heute - und hat dabei einen zauberhaften jungen Mann im Auge: Harry Potter.

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