Verschenkte Möglichkeiten

TRIER. Die Musik-Fans sind seit langem weiter als die Musik-Industrie. Mittels illegaler Kopien haben sie auf überteuerte CD-Preise reagiert und dem Markt Umsatzeinbußen in Millionenhöhe beschert. Doch bieten Tonträger-Firmen kaum legale und innovative Alternativen für die Zukunft.

"Die Musikindustrie hat das Problem einer Industrie, der es zu gut gegangen ist", sagt Tim Renner, scheidender Deutschland-Chef des weltgrößten Musik-Unternehmens Universal Music. Belegt wird dies dadurch, dass CDs zwar zwei Jahrzehnte wichtigster Umsatzträger der Musik-Branche waren. Doch die wird immer mehr zur Musik-Brache, denn die CD wird zum Ladenhüter, und neue revolutionäre Ideen sind nicht in Sicht. Das Geschäft mit Musik und seinen Vermarktungsmöglichkeiten machen inzwischen andere. Die Vorreiter kommen aus der Hardware-Branche. Allein mit dem Verkauf von Klingeltönen werden nach Marktschätzungen schon jetzt zwischen einer und drei Milliarden Euro Umsatz gemacht. Bis zu zwei Euro pro Klingelton geben Jugendliche aus. Damit nicht genug. Auch komplette Songs und echte Musiktracks können aufs Handy gespielt werden. Das legale Geschäft mit der Online-Musik - das im Untergrund bereits seit Jahren blüht - hat im vergangenen Jahr nach langem Zögern der Branche immerhin erste Erfolge gezeigt. So hat beispielsweise der iTunes Music Store des Computer-Herstellers Apple seit dem US-Start im April 2003 mit über 30 Millionen heruntergeladenen Songs alle Erwartungen übertroffen. Der europäische Marktführer OD2, gegründet von Popstar Peter Gabriel, hat 2003 immerhin drei Millionen Songs in elf europäischen Ländern online verkauft - nach schlichten 200 000 im Jahr davor. Doch noch ist das illegale Geschäft mit Online-Musik dem legalen weit voraus. Nach einer aktuellen Untersuchung des Internationalen Verbandes der Plattenbranche haben im vergangenen Jahr rund sechs Millionen Internetsurfer in so genannten Peer-to-Peer-Tauschbörsen wie Kazaa oder Gnutella mehr als acht Milliarden Musikstücke illegal untereinander getauscht. Allerdings ist gerade in Deutschland das Herunterladen von Musik aus dem Internet nicht das Hauptproblem. Das Ausmaß des Brennens von CDs bringt den Musikmanagern den Blues - mittlerweile werden mehr CD-Rohlinge mit Musik bespielt als Musik-CDs verkauft. Das Ende der CD scheint also besiegelt, nur über den Bestattungstermin wird noch diskutiert. Dabei sieht Michael Baur, Vorstand der Tonträgerfirma Edel Music, vor allem strategische Fehler als die Ursache allen Übels: "Die CD ist nicht von der Musikindustrie erfunden worden, sondern von der Hardware-Industrie. Das Basismodell des legalen Herunterladens hat nicht die Musikbranche, sondern der Computerhersteller Apple etabliert." Baur ist davon überzeugt, dass die Musikbranche künftig nur zusammen mit Hardware-Industrie und Fernsehkonzernen überleben kann: "Die Musikindustrie wird künftig nicht als eigene Industrie in dieser Form bestehen bleiben."Musik-Industrie ist eine Rechte-Industrie

Ob Kooperationen der Führungskonzerne Universal, Warner, Sony, Emi und BMG, ob Konzentration auf wenige, aber dafür profitable Künstler: Solche Strategien senken Kosten, steigern aber nicht zwingend die Einnahmen. Denn noch sind die Einnahmequellen begrenzt, es fehlen den Plattenfirmen vielfach umfangreiche Vermarktungs-Rechte an Künstlern und ihren Werken. Für Musik-Experte Tim Renner ist dies nicht verwunderlich: "Auch die Musik-Industrie muss erkennen, dass sie eine Rechte-Industrie ist." Den drastischen Verkaufseinbruch bekommen allerdings überwiegend jene Musikschaffenden zu spüren, die es noch nicht geschafft haben. Plattenbosse werden es sich in Zukunft sehr genau überlegen, ob sie einem Newcomer eine Chance geben wollen. Deshalb trauert vor allem die Musik produzierende Branche Tim Renner nach. Der Manager, der einst das biedere Plattenlabel Polydor aufgemischt hatte und sich nicht zu schade war, in Übungskellern und Hinterhofstudios nach frischem Blut für die ausgelaugte Pop-Branche zu suchen, las jüngst der Branche die Leviten: "Das Internet ist ein Gottesgeschenk, da jeder Mensch dort Musik nach seinem Geschmack finden kann", verkündete er im "Musikmarkt Online". Dieses Potenzial sei in der Branche nicht ausreichend erkannt worden. Ungemach aus dem Internet droht auch einer anderen Branche: dem Film. Hier hat sich dank zunehmender Leistungskapazitäten von Heimcomputern ein Grau- bis Schwarzmarkt etabliert, auf dem ein schwunghafter Handel mit illegal heruntergeladenen Filmen blüht, die auf CD gebrannt und im Freundes- und Bekanntenkreis verschenkt bis verscherbelt werden. Nach Auskunft von Johannes Klingsporn, Geschäftsführer des Verbands der Filmverleiher, haben sich 2003 mehr als fünf Millionen Deutsche rund 60 Millionen Mal Filmraubkopien heruntergeladen und auf CD gebrannt. Die Hamburger Gesellschaft zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen (GVU) ist überzeugt, dass der deutschen Videobranche dadurch im vergangenen Jahr 15 Prozent der Umsätze wegbrachen. Es sei also nur eine Frage der Zeit, bis den ersten Videotheken die Kundschaft ausgehe, meinte der GVU-Geschäftsführer Jochen Tielke.Industrie hat die Kontrolle über ihre Filme verloren

Das Marktforschungsunternehmen Viant Corporation ist bei einer bereits 2002 durchgeführten Studie "The Copyright Crusade II" zu dem Ergebnis gekommen, dass die Filmindustrie die Kontrolle über die Verbreitung von Filmen verloren hat: Viele Titel wurden schon vor dem offiziellen Kinostart als Raubkopie im Netz angeboten. Die Autoren der Studie schätzten damals, dass täglich rund 600 000 Filme weltweit heruntergeladen wurden - eine Zahl, die sich mittlerweile mindestens verdoppelt haben dürfte. Die einzige Hoffnung, an der sich die Filmschaffenden noch klammern können, ist der Umstand, dass die Qualität der Raubkopien nicht an die Brillanz der DVD heranreicht - von der eines Kinofilms ganz zu schweigen. Allerdings gibt es auch schon Geraubtes in brillanter Qualität: Immer häufiger tauchen hervorragende Kopien auf, die an die Presse oder Kopiereinrichtungen abgegeben wurden. Dort arbeiten offenbar einige Zeitgenossen, die der Versuchung eines Nebenverdienstes nicht widerstehen konnten - oder ein großes Herz für Kinofans haben.

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