Viele kleine Zaren

MOSKAU. In den nächsten Monaten beobachtet TV-Mitarbeiter Johannes Aumüller während seines Auslandsaufenthalts in Moskau die "russische Seele". Seine persönlichen Eindrücke fasst er für den Volksfreund in einer Serie zusammen. Heute lesen Sie die erste "Mail aus Moskau".

In jedem Russen steckt ein kleiner Zar, ein kleiner Stalin oder ein kleiner Was-auch-immer, auf jeden Fall ein Funken von dem, was wir in Deutschland immer so umschreiben: nach oben buckeln, nach unten treten. Extra abgeschnitten wird nichts

Was freut sich der Normalo-Russe, wenn er auch mal ein bisschen Herrscher spielen darf. Im Supermarkt beispielsweise, wenn der Kunde nicht den ausgelegten 300-Gramm-Käse-Brocken kaufen will, sondern davon lediglich ein 100-Gramm-Stückchen abgeschnitten haben möchte: "Nein, nein, nein, extra abgeschnitten wird hier in diesem Supermarkt grundsätzlich nichts", heißt es mit einem so mürrischen Gesicht, als stünde der Weltuntergang kurz bevor - dass dieselbe Bitte dreieinhalb Meter weiter bei der Kollegin an der Wursttheke anstandslos erfüllte wird, sei nur am Rande erwähnt. Im Supermarket-internen Kundenunfreundlichkeits-Ranking stehen über den Damen an der Käse-Theke nur noch die Kassiererinnen. In welch genervten Zustand der Blick sich verwandelt, wenn sie nur sehen, dass der Kunde bei einem zu zahlenden Betrag von 130 Rubel einen 1000-Rubel-Schein aus der Tasche fuchtelt. Ganz besonders schlimm ist das frühmorgens oder spätabends, und dann kann es auch schon einmal passieren, dass die Dame an der Kasse nur mit den Schultern zuckt und sagt: "Wechseln ist jetzt leider nicht möglich. Kaufen Sie die Äpfel und den Käse doch später." Wenn sie denn großzügiger sind und glücklicherweise den großen Schein akzeptieren, nehmen sie es dafür im Gegenzug mit dem Rückgeld nicht so genau: Auf die kleinen Kopeken-Beträge achtet ohnehin keiner so genau, aber es kann dann auch schon mal passieren, dass vier oder fünf Rubel weniger als eigentlich erwartet zurück in den Geldbeutel wandern. Eben nicht anders möglich im Moment. Im Prinzip ist Einkaufen rund um die Uhr möglich. An zig Geschäften prangt das "24 Stunden"-Schildchen. Von neun Uhr morgens bis elf Uhr abends aber ist der Standard. Nur ist das Wort eben das eine, die Tat das andere. Und deswegen ist es nicht verwunderlich, wenn um fünf vor elf der Wachmann vor der Nase des Kunden die Tür schließt. Oder die Betreiber am Kiosk nebenan am helllichten Tag mal das Wort "Pause" auf ein Stück Pappe kritzeln, besagtes Stück Pappe ins Fenster hängen und für eine Viertelstunde verschwinden - so ganz ist der Kapitalismus in Russland vielleicht doch noch nicht eingezogen. d Johannes Aumüller aus Trier, 22, seit sechs Jahren Mitarbeiter beim TV, absolviert derzeit ein Auslandssemester in Moskau, studiert dort vor allem die russische Sprache, aber mit mindestens genauso großem Ehrgeiz die russische Seele und die russische Mentalität - über seine Erfahrungen damit berichtet er in loser Reihenfolge in der Rubrik "Briefe aus Moskau" und im Intrinet im Weblog goeast.blog.intrinet.de.

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