WM-Karten und Billigstrom

Berlin. Wenn Wolfgang Thierse (SPD) alljährlich Presse, Funk und Fernsehen einlädt, wissen die Medienvertreter in Berlin: Jetzt gibt's was auf die Mütze.

Gerne nutzt der Präsident die Gelegenheit zur Attacke, zur Aufforderung, mit der Berichterstattung die vorhandene Politikverdrossenheit nicht noch weiter zu schüren. So auch am Donnerstagabend anlässlich des "Jahresempfangs des Bundestagspräsidenten", als Thierse unverhohlen von Gefahren für die Demokratie sprach. Dass die Parlamentarier jedoch in der Regel selbst verantwortlich sind für die Ärgernisse, über die sie hinterher lamentieren, wird gerne übersehen. Neuer Aufreger ist das von unserer Zeitung enthüllte Vorkaufsrecht für Karten zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland, das Abgeordneten eingeräumt werden sollte. Ein ganz besonderer VIP-Deal. In Berlin herrschte gestern die erste WM-Hysterie. Sogar das Wort vom Kartenskandal machte die Runde, nachdem unsere Zeitung exklusiv ein pikantes Schreiben des Sportausschusses veröffentlicht hatte. Daraus ging hervor, dass das Organisationskomitee (OK) auf Bitten des Sportausschusses beabsichtige, "für die Vorrundenspiele jedem Mitglied des Deutschen Bundestages zwei Kaufkarten verfügbar zu machen". Auf Seite zwei mussten die Parlamentarier unter der Überschrift "Ich bitte um Vorreservierung folgender Kaufkarten für die Vorrundenspiele der Fußball-WM 2006" nur noch den Spielort und das Spieldatum eintragen. Der Sportausschussvorsitzende Peter Rauen (CDU) und sein Stellvertreter Peter Danckert (SPD) hatten ihrem Brief netterweise noch einen Spielplan beigefügt. Besonders brisant: Während der einfache Fan erst ab dem 1. Februar Tickets erwerben kann und schon jetzt sicher ist, dass Millionen in die WM-Röhre gucken werden, wurde den über 600 Damen und Herren Abgeordneten ein besonderer VIP-Service eingeräumt: garantierte Karten plus Vorbestellung "bis Mittwoch, den 19. Januar 2005, 11 Uhr". So viel zur Chancengleichheit. Unter der Reichstagskuppel herrschte gestern helle Aufregung, kaum ein Abgeordneter wollte den vom Sekretariat des Sportausschusses frisch abgeschickten, offiziellen Brief kennen. Und jeder Parlamentarier, der gefragt wurde, fügte hinzu: "Ich würde das Angebot auch nicht annehmen." Die Politfüchse wissen: Das Bild von ihnen in der Öffentlichkeit ist momentan ohnehin desolat, und beim Fußball kennen die Deutschen erst recht keine Gnade, schon gar nicht bei einem so stark emotionalisierten Thema wie den wenigen Eintrittskarten zur WM im eigenen Land. Denn jeder möchte eine haben, aber kaum einer wird eine bekommen.Kleinlauter Rückzug

Wilhelm Schmidt, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD, zog daher gestern Morgen die Notbremse auf dem parlamentarischen Fußballfeld: "Ich bitte Euch - nein, ich fordere Euch auf -, von diesem Angebot des Sportausschusses keinen Gebrauch zu machen!", flehte er seine Kollegen schriftlich und fett gedruckt an. Auch die beiden Ausschussvorsitzenden, Rauen und Danckert, ruderten - verfolgt von der Protestlawine - eiligst zurück: Man habe nur die Absicht gehabt, "Wünsche nach Kaufkarten zu bündeln". Kleinlauter hätte der Rückzug nach dem peinlichen Eigentor wohl nicht sein können. "Instinktlos. Ich brauche weder Vorzugskarten noch verbilligten Strom", kommentierte der SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz gegenüber unserer Zeitung. Womit sich der Kreis zu Wolfgang Thierse wieder schließt: Er streitet seit längerem gegen die Presse, insbesondere hadert der Präsident mit der "Bild"-Zeitung - diesmal geht es um den Abdruck von Listen zu den Nebentätigkeiten von Abgeordneten. Die "WM-Karten-Affäre" passt jedoch ins derzeitige Bild, dass einige von Thierses Polit-Kollegen bieten: Der ehemalige Chef der Sozialausschüsse der Union, Arentz, kassiert 60 000 Euro fürs Nichtstun; CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer bezieht nicht nur verbilligt Strom, sondern auch noch einige Monate nach Ausscheiden bei RWE sein Gehalt weiter. Der Stromkonzern bestätigte am Freitag, dass Meyer noch mehrere Monate bezahlt worden sei. "Der Arbeitsvertrag zwischen Herrn Meyer und RWE ruht seit Ende April 2001", sagte eine RWE-Sprecherin in Essen. Und die Nebeneinkünfte der Abgeordneten sollen weiter im Dunkeln bleiben. Fragt sich also, ob Thierses jährliche, harsche Schelte nicht an die falsche Adresse gerichtet ist.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort