Wahl des neuen Parteivorsitzenden: SPD im Zauberbann des Martin Schulz - Delegierte aus der Region dabei

Berlin · Ein euphorischer Parteitag der SPD wählt Merkel-Herausforderer einstimmig zum neuen Vorsitzenden und glaubt fest an den Wahlsieg. Mit dabei: Sozialdemokraten aus der Region.

Euphorie ist ein untertriebenes Wort für die Stimmung beim Berliner SPD-Parteitag. Schon Martin Schulz' Einzug in die "Arena" gleicht einem Triumphzug. Der Kandidat muss unzählige Hände schütteln. Immer wieder sieht man Leute, die ihn umarmen und ihm auf die Schulter klopfen. 100 Prozent bekommt er bei der Wahl zum neuen Parteivorsitzenden. Einer scherzt: "Kim Jong Schulz". Er selbst sagt: "Das ist der Auftakt zur Eroberung des Kanzleramtes". Die Inszenierung ist perfekt. Der Parteitag ist im Stil eines "Townhall-meetings" gestaltet, das Rednerpult in der Mitte. Eine Auswahl aus den fast 13 000 Neumitgliedern sitzt hinter dem Redner, vor allem junge Leute. Es wirkt alles schon fast amerikanisch. Der Alt-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel (91) wird per Videobotschaft eingeblendet: "Ich möchte noch erleben, dass mit Martin Schulz wieder ein Sozialdemokrat Bundeskanzler wird", sagt er und bekommt Riesenbeifall hinein ins ferne Seniorenwohnstift in München.

Auf den Stühlen liegen Stofftaschen mit dem Aufdruck: "London, New York, Paris, Würselen". Viele Delegierte halten rote Schilder mit einem Schwarz-Weiß-Foto des Kandidaten hoch. "Jetzt Kanzler". Es erinnert wegen des erhobenen Arms an ikonografische Lenin-Bilder. Auch Ironie können sie jetzt plötzlich bei der SPD, und deshalb stört auch die witzige Aktion der CDU-Nachwuchsorganisation Junge Union nicht wirklich, die gegenüber am anderen Spreeufer mit einem Schiff liegt. "Hey Gottkanzler, wenn du übers Wasser laufen kannst, komm rüber", steht auf einem Banner. Dazu plärrt der alte Schlager der Comedian Harmonists "Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich" über den Fluss. Es sei doch bemerkenswert, amüsiert sich die SPD-Sprecherin, dass die Konkurrenz schon "Gottkanzler" sage. Selbst Sigmar Gabriel, der bei dem Treffen als Parteichef abgelöst wird, verzichtet auf die bei ihm eigentlich zu erwartende melancholische Abschiedsrede und sagt stattdessen: "Dies ist der fröhlichste und optimistischste Wechsel, den die Partei je erlebt hat." Vor allem ist es ein umstandsloser Wechsel. Schulz übergibt ihm eine August-Bebel-Lithographie, ein paar warme Worte, das war's.

Martin Schulz hält eine einstündige Rede, die schon nach fünf Minuten bei der eigenen Herkunft ankommt: die Kleinstadt, die Buchhändlerlehre, die "zweite Chance", die das Leben ihm gab, die Kommunalpolitik. "Nun stehe ich hier vor euch, ein Mann aus Würselen, ein Mann aus einfachen Verhältnissen". Der 61-Jährige kokettiert damit, weil es ihm Glaubwürdigkeit geben soll. Es gehe ihm um Gerechtigkeit, sagt er, um "die hart arbeitenden Menschen, die sich an die Regeln halten", um "Respekt" und "die ganz normalen Familien."

Zweimal geht der Beifall über das ohnehin hohe Normalniveau dieser Veranstaltung noch hinaus. Einmal, als Schulz die Rechtspopulisten angreift. "Wer Lügenpresse sagt, legt die Axt an die Demokratie, ob als Präsident der USA oder als Pegida-Demonstrant". Und dann nach seinem allerletzten Satz: "Ich will Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden." Kaum hat er "Ich will" gesagt, kreischen schon die ersten frenetisch, danach will der Applaus nicht enden.

Konkret wird Schulz auch an diesem Sonntag kaum, außer bei der Bildungspolitik, wo er ein Recht auf einen Ganztagsschulplatz und eine gebührenfreie Bildung von der Kita bis zur Uni fordert. Das Wahlprogramm ist noch in Arbeit. Auffällig ist, dass sich der 61jährige nicht von der Agenda 2010 Gerhard Schröders distanziert, mit der in der SPD viele hadern. Ausdrücklich lobt er sogar den Altkanzler, "der Deutschland so reformiert hat, dass wir noch heute davon profitieren". Freilich ergänzt er den Satz sofort um die Formulierung "und der Nein zum Irak-Krieg gesagt hat", was den Beifall erklärt. Auch später, als es um sein umstrittenes "Arbeitslosengeld Q" geht, sagt er, er mache das nicht wegen "14 Jahre zurückliegender Diskussionen", sondern um das Zukunftsproblem des Fachkräftemangels zu lösen. Beifall. Auch viele Parteilinke hören jetzt nur noch, was sie hören wollen. Johanna Uekermann, Chefin der Jungsozialisten, die sich beim letzten Parteitag noch heftig mit Gabriel angelegt hatte, geht als eine der ersten Rednerinnen ans Pult: "Lieber Martin, wir glauben dir", sagt sie. Mehr Vertrauensvorschuss, als Schulz an diesem Sonntag bekommt, geht kaum. Eine größere Erwartung auch nicht.
TOPS UND FLOPS: SO WäHLTE DIE SPD IHRE CHEFS

Schumacher, Ollenhauer, Brandt: Die SPD hat große Vorsitzende hervorgebracht. Top: Kurt Schumacher: 99,71 Prozent (1948); 99,70 Prozent (1947); 99,59 Prozent (1946); 97,73 Prozent (1950). Matthias Platzeck: 99,40 Prozent (2005). Willy Brandt: 99,36 Prozent (1966), 97,59 Prozent (1968). Erich Ollenhauer: 98,84 Prozent (1952). Hans-Jochen Vogel: 98,84 Prozent (1988); 98,40 Prozent (1987). Flop: Oskar Lafontaine: 62,5 Prozent (1995). Sigmar Gabriel: 74,27 Prozent (2015), 83,6 Prozent (2013) Gerhard Schröder: 75,98 Prozent (1999); Rudolf Scharping: 79,39 Prozent (1993).

Wie regionale SPD-Delegierte die Wahl live erleben

Wirklich telefonieren kann Sven Teuber nicht, als er im Zug von Berlin nach Trier sitzt. Immer wieder reißt das Netz ab. Aber egal. Mehrere Anrufversuche machen dem SPD-Landtagsabgeordneten nichts aus - er erzählt gerne vom Tag, an dem er mit seiner Stimme Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten wählte. "Die Partei hat ja selbst Sigmar Gabriel zugejubelt - und das ist schon lange her", meint Teuber. Von der Begeisterung angesteckt ist auch der 34-Jährige, der morgens ein Foto auf Facebook postete, wie er in SPD-roten Schuhen durch den Treptower Park joggt. Der Lauf sei aber nicht nur ein Zeichen für Schulz gewesen, räumt er lachend ein. "Ich hatte eine Sprunggelenksverletzung und bin froh, mich wieder bewegen zu können." 55 Minuten hielt er durch - und war danach einer von 605 Delegierten, die Schulz wählten. Die Begeisterung breite sich auch in der Region aus. Aus Trier seien 50 SPD-Mitglieder mit dem Bus nach Berlin gefahren, nur um die Schulz-Wahl live zu erleben. "Einige Mitglieder sagten mir, eine solche Euphorie haben sie das letzte Mal bei Willy Brandt erlebt", erzählt Teuber.

Das Leben der Menschen besser machen sei ein wichtiger Satz von Willy Brandt gewesen, sagt die Vulkaneifelerin Astrid Schmitt. Die Landtagsabgeordnete habe berührt, dass Martin Schulz dieses Ziel in Berlin aufgegriffen habe. Ihr Eindruck von der Wahl: "Ich habe mich wie auf einem Rockkonzert gefühlt." Mit einem echten Schulz-Fan habe sie danach noch in Kreuzberg was getrunken - mit Nick Radermacher, einem jungen Ortsbürgermeister aus Gunderath (Vulkaneifel). "Er ist wegen Martin Schulz frisch in die SPD eingetreten und wollte die Wahl erleben. Das zeigt, wie Schulz die Menschen elektrisiert."

Bettina Brück ist spätestens seit dem vergangenen Jahr Schulz-Fan, als sie ihn in Wittlich kennenlernte. Die Thalfangerin machte da noch Fotos mit dem Handy - und wünschte sich insgeheim, Schulz könnte mal Kanzler sein. "Damit gerechnet hätte ich nicht. Mir gefällt, dass er überzeugter Europäer ist."

Dem Eifeler Nico Steinbach imponiert, dass der Funke von Schulz überspringe. Der Kanzlerkandidat spreche nicht verklausuliert, sondern verständlich. Die Fahrt nach Berlin habe sich gelohnt, sagt der Landtagsabgeordnete. "Auch wenn ich erst tief in der Nacht zuhause bin."

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