Wenn die Armut neu vermessen wird

Armutsbericht, der zweite Versuch: Nachdem Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) die Analyse zur sozialen Lage in Deutschland schon im Mai an die Öffentlichkeit lanciert hatte, verabschiedete das Bundeskabinett gestern eine überarbeitete Fassung. Die Kernaussage blieb erhalten: Demnach lebt hierzulande jeder achte Bürger in Armut.

Berlin. Olaf Scholz musste sich teilweise korrigieren. Zum Ärger des Wirtschaftsministeriums atmete sein erster Berichtsentwurf viel SPD-Politik. Nun kommt die segensreiche Wirkung von Mindestlöhnen nur noch am Rande vor. Und die Forderung nach einem Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss verschwand gänzlich aus dem Text. Umstritten bleibt das neue Papier trotzdem. Zum einen beziehen sich die meisten Daten auf das Jahr 2005, als der wirtschaftliche Aufschwung gerade erst an Fahrt gewann. Damit würden die "sozialen Erfolge" in jüngster Zeit ausgeblendet, klagte Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU). Und zum anderen fußen die Zahlen auf neuen Messverfahren, denen ein europäischer Vergleichsmaßstab zugrunde liegt. So kommt es, dass beim letzten Armutsbericht vor drei Jahren ein Alleinstehender noch als arm galt, wenn er weniger als 939 Euro im Monat zur Verfügung hatte. Im aktuellen Bericht ist die Grenze dagegen auf 781 Euro gesunken. Das entspricht 60 Prozent eines mittleren Einkommens. Nach dieser Rechnung wären heute von vornherein weniger Menschen von Armut betroffen als damals. Für die Bundesregierung ist freilich eine ganz andere Aussage maßgebend: "Der Sozialstaat wirkt", erklärte Arbeitsminister Scholz. Transferleistungen wie das Arbeitslosengeld II, die Sozialhilfe samt Grundsicherung für Ältere, aber auch das Wohn- und Kindergeld hätten das Armutsrisiko im Jahr 2005 glatt halbiert. Im Klartext: Ohne staatliche Unterstützung wäre nicht nur jeder achte Bundesbürger (13 Prozent) mit Armut konfrontiert, sondern jeder vierte (26 Prozent). Als besonders armutsgefährdet gelten Menschen ohne abgeschlossene Berufsbausbildung, Alleinerziehende und Zuwanderer. Zunahme im Niedriglohnbereich

Für Rentner sei Armut dagegen "kein aktuelles Problem". Ende 2006 waren nur 2,3 Prozent der über 65-Jährigen auf die staatliche Grundsicherung angewiesen. Im Osten lag der Wert lediglich bei 1,1 Prozent. Auch bei Familien mit Kindern ist das Bild differenziert. Haben die Eltern Arbeit, dann sinkt das Armutsrisiko von 48 auf bis zu vier Prozent. Bei den politischen Arbeitsmarktreformen zieht der Armutsbericht wie nicht anders zu erwarten ein positives Gesamtfazit. Mittlerweile hätten wieder über 40 Millionen Menschen einen Arbeitsplatz. "Politischen Handlungsbedarf" sieht der Bundesarbeitsminister indes bei der Zunahme im Niedriglohnbereich. Allein in Ostdeutschland hatte 2005 schon fast jeder fünfte Vollzeitarbeiter einen Billigjob. Scholz bezeichnete diese Entwicklung bereits im Mai als "besorgniserregend". Dabei hat gerade seine Partei, die SPD, einen großen Anteil am Aufschwung des Niedriglohnsektors. Der Deutsche Caritasverband warnte dann auch vor einer "wachsenden Spaltung der Gesellschaft". Kritik gab es auch am Armutsbericht selbst. Das Papier unterscheide nicht zwischen einer sachlichen Analyse und einem politischen Bewertungsteil, kritisierte der Verband. Meinung Geschönte Wirklichkeit So zweifelhaft die Datenbasis für den neuen Armutsbericht der Bundesregierung auch sein mag, der Befund ist eindeutig: Ein großer Teil unserer Gesellschaft muss den Euro mehr als zweimal umdrehen, bevor er ausgegeben werden kann. Zu den Hauptverlierern zählen Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende und Migranten. Auf ihr besonderes Armutsrisiko wurde bereits in zahlreichen anderen Untersuchungen hingewiesen. Ärgerlich ist, wie die Bundesregierung damit umgeht. Ohne staatliche Transfers, so vermerkt ihre jüngste Bestandsaufnahme stolz, wären hierzulande doppelt so viele Menschen von Armut bedroht. Als ob das ein Trost wäre! Das Gegenteil ist richtig. Denn der gefühlten Ungerechtigkeit wird damit weiter Vorschub geleistet. Betrogen müssen sich all jene Menschen fühlen, die mit ihren nicht eben üppigen Löhnen und Gehältern gerade so über die Runden kommen und dadurch keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung haben. Die beste Versicherung gegen einen Daueraufenthalt im sozialen Abseits sind immer noch ein ordentlicher Schulabschluss und eine solide Berufsausbildung. In Deutschland entscheidet jedoch die soziale Herkunft maßgeblich über den Bildungserfolg. Das gilt vor allem für Migranten, deren Anteil in der Bevölkerung stetig wächst. So lange sich daran nichts grundlegend ändert, wird die Bundesregierung noch viele Armutsberichte schreiben müssen - und der Versuchung erliegen, die Lage zu beschönigen. nachrichten.red@volksfreund.de

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