Wohin steuert Horst Köhler?

BERLIN. Die Parteien warten mit Spannung auf die Entscheidung von Bundespräsident Horst Köhler über die angestrebte Neuwahl des Bundestages. Spätestens am Freitag muss Köhler sagen, ob er dem Vorschlag von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) folgt und den Bundestag vorzeitig auflöst.

Horst Köhler hat in dieser Woche beinah alle offiziellen Termine gestrichen. Nur die Wohltätigkeitsgala "Gemeinsam für Afrika" am Donnerstagabend in der Berliner St. Elisabeth Kirche will der Bundespräsident nicht versäumen. Als Schirmherr der Veranstaltung wird er dort um Spenden für den schwarzen Kontinent bitten. Die Nation wartet freilich auf einen ganz anderen Auftritt des Staatsoberhaupts. Viel Geheimniskrämerei

Bis spätestens Freitagmittag muss Köhler die Frage beantworten, ob die absichtlich verlorene Vertrauensfrage des Bundeskanzlers am 1. Juli Neuwahlen rechtfertigt oder nicht. In der Pressestelle des Bundespräsidialamts hielt man sich auch gestern über den Zeitpunkt der Verkündung bedeckt. Köhlers Sprecher Martin Kothe verwies lediglich auf eine alte Erklärung, wonach der Bundespräsident die ihm verfassungsmäßig zustehende Bedenkzeit von 21 Tagen "ausschöpfen" werde. Soviel Geheimniskrämerei lässt die Spekulationen natürlich weiter blühen. Da Köhler seine Entscheidung offenbar via Fernsehen unters Volk bringen will, hat man sich in Koalitionskreisen schon mal über den notwendigen Vorlauf erkundigt. Ergebnis: Eine Fernsehstation müsste mindestens zwei Stunden vorher Bescheid wissen, um den Bundespräsidenten live auf die Mattscheibe zu bringen. Selbst das Kanzleramt tappt weiter im Dunklen. Regierungssprecher Bela Anda teilte gestern lediglich mit, dass Gerhard Schröder "rechtzeitig" in Berlin sein werde, um die mögliche Urkunde zur Auflösung des Parlaments gegenzuzeichnen. Doch ganz gleich, wann sich Köhler nun erklärt, eine Gratwanderung wird es für ihn allemal. Sagt der 62-jährige "Nein" zu Neuwahlen, würde er sich nicht nur gegen die überwältigende Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung stellen, sondern auch gegen den erklärten Willen sämtlicher Bundestagsparteien, die längst ihre Wahlkampfmaschinen angeworfen haben. Sagt Köhler jedoch wie allgemein erwartet "Ja", bleibt immer noch in der Schwebe, ob der Urnengang tatsächlich wie geplant am 18. September stattfindet. Denn der Fall landet erst einmal beim Bundesverfassungsgericht. Schröder legt Presse-Sammlung vor

Die Bundestagsabgeordneten Werner Schulz (Grüne) und Jelena Hoffmann (SPD) haben dazu bereits entsprechende Organklagen gegen den Bundespräsidenten angekündigt. Das Kanzleramt setzte alle Hebel in Bewegung, um Neuwahlen zu rechtfertigen. Neben einer juristischen Bewertung wurde dem Bundespräsidenten auch eine 250 Seiten starke Sammlung von Presseartikeln übermittelt, die belegen soll, dass der Kanzler nicht mehr auf das Vertrauen der rot-grünen Fraktionen bauen kann. Das Material enthält insbesondere Äußerungen der Abgeordneten Ottmar Schreiner (SPD) und Christian Ströbele (Grüne), die den Kanzler mehrfach zu einem Politikwechsel aufgefordert hatten. "Es ist schon eine neue Situation, dass sich eine Regierung durch eine Zitatensammlung erschüttert fühlt", meinte der Abgeordnete Werner Schulz gegenüber unserer Zeitung. Der einstige DDR-Bürgerrechtler geht davon aus, dass Köhler Neuwahlen billigen wird. "Es würde mich überraschen, wenn der Bundespräsident angesichts des enormen politischen Drucks die Kraft aufbrächte, zu sagen, das Verfahren überzeugt mich nicht", sagte Schulz. Dabei sei es "ein klarer Missbrauch der Verfassung, das Parlament bei einem gefühlten Misstrauen aufzulösen". Seine Klage, die in der kommenden Woche nach Karlsruhe gehen solle, sei bereits "zu 70 bis 80 Prozent" fertiggestellt. Der Grüne kritisierte, dass die "Trickserei bei Helmut Kohl nun zur Wiedervorlage" käme. Nach der Ablösung von Regierungschef Helmut Schmidt (SPD) durch ein konstruktives Misstrauensvotum im Jahr 1982 hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl ebenfalls die Vertrauensfrage absichtlich verloren, um sich über Neuwahlen eine breite Legitimation in der Bevölkerung zu verschaffen. Würde das Bundesverfassungsgericht in den kommenden Wochen tatsächlich im Sinne von Schulz entscheiden, wären persönliche Konsequenzen Köhlers wohl unausweichlich. Grünen-Politiker Schulz verfestigt seine Kritik

Als die Roten Roben 1983 die Auflösung des Parlaments bestätigt hatten, stellte der damalige Bundespräsident Karl Carstens klar, dass eine gegenteilige Entscheidung mit seinem Rücktritt verbunden gewesen wäre. Nach dem Votum Köhlers wird sich der Blick aber erst einmal auf Werner Schulz richten. Um die zahlreichen Interview-Anfragen zu bewältigen, will der Grüne gleich eine Pressekonferenz abhalten.

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