"Zwischen Baum und Borke"

BERLIN. Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) hat die regierungsoffizielle Wachstumsprognose vom Januar um 0,6 auf ein Prozent gesenkt. Nach Ansicht des Leiters der Konjunkturabteilung am Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Udo Ludwig, ist aber auch diese Vorhersage wenig realistisch.

Herr Ludwig, der Wirtschaftsminister hat seine Wachstumsprognose für 2005 fast halbiert. War Clement von Anfang an zu optimistisch? Ludwig: Seine Prognose vom Januar war mit 1,6 Prozent ohne Frage zu optimistisch. Und ich sage das nicht nur aus heutiger Sicht. Schon zum Jahreswechsel lagen die meisten Prognosen deutlich niedriger. Eigentlich sollte diese Erkenntnis bei der Regierung einen Lernprozess für mehr Realismus auslösen. Ist ein Prozent Wachstum realistisch? Im jüngsten Frühjahrsgutachten, das auch von Ihnen erstellt wurde, bleiben die Institute unter dieser Marke.Ludwig: Mit ein Prozent plus bewegt sich Clement wieder am oberen Rand der gängigen Vorhersagen. Das heißt, hier steckt erneut eine gehörige Portion Hoffnung drin. Wir haben Vorsicht empfohlen. Denn an die Prognose knüpfen sich viele Konsequenzen bei den Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand. Andererseits ist Clement daran gelegen, die düstere Stimmung in der Bevölkerung wenigstens etwas aufzuhellen. Der Minister steckt also zwischen Baum und Borke. So zieht er es vor, etwas fern von den Realitäten zu agieren. Für die meisten Bürger dürfte sich die Diskussion auf eine Korrektur hinter dem Komma reduzieren.Ludwig: Das hieße, das Problem zu unterschätzen. Wichtig ist, dass die Wirtschaft erst einmal wächst. Wir hatten ja bis 2003 drei Jahre lang Stagnation. Klar ist aber auch, dass sich mit einem geringen Zuwachs des Bruttosozialprodukts kaum etwas zum Besseren wendet. Ein Prozent Wachstum bedeutet etwa sieben Milliarden Euro Steuereinnahmen. Wenn Clement seine Prognose um mehr als einen halben Prozentpunkt zurücknimmt, sind damit Steuerausfälle von drei bis vier Milliarden Euro verbunden. Den geringeren Steuereinnahmen stehen vermutlich auch Mehrausgaben für den Arbeitsmarkt gegenüber. Wie soll Hans Eichel auf das Dilemma reagieren? Ludwig: Der Finanzminister muss seinen Haushalt samt Konsolidierungsprogramm überprüfen. Es geht um Umschichtungen, damit sich die Verschuldung, die sich in stärkerem Maße andeutet als nach bisheriger Planung, in Grenzen hält. Nach der Steuerschätzung im Mai wäre Eichel gut beraten, einen Nachtragshaushalt vorzulegen. Nun will der Finanzminister der lahmenden Konjunktur nicht hinterher sparen. Da bleibt doch nur eine höhere Neuverschuldung.Ludwig: Die Mehrheit der Forschungsinstitute schlägt vor, dass Eichel jedes Jahr mindestens einen halben Prozentpunkt seines Defizits abbauen soll. Das IWH trägt einen solchen verschärften Sparkurs allerdings nicht mit. Neue Kredite sind dann unvermeidlich. Aber die Alternative wären schärfere Einschnitte in einer ohnehin wirtschaftlich labilen Lage. Wenn Sie so wollen, dann sind neue Schulden immer noch das kleinere Übel, als die Konjunktur restlos abzuwürgen. Nun wird auch die Halbwertzeit der Prognosen von den Forschungsinstituten kürzer. Woran liegt das?Ludwig: Niemand von uns hat zum Beispiel mit einem Ölpreisschock gerechnet, der den Leuten massiv Kaufkraft entzieht. Eine solche Verteuerung von Benzin und Heizöl war in keiner Prognose zum Jahreswechsel enthalten. Die Fragen stellte unser Korrespondent Stefan Vetter.

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