Zwischen überfällig und unumsetzbar

BERLIN. Klinikärzte triumphieren: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat das deutsche Arbeitszeitrecht gekippt. Bereitschaftsdienste gelten künftig als Arbeitszeit.

Die gesundheitspolitischen Protagonisten von Regierung und Opposition waren sich wieder einmal einig: Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofes, die Bereitschaftsdienste deutscher Klinikärzte künftig komplett als Arbeitszeit zu bewerten, ist bereits in die Gesundheitsreform eingearbeitet. Mit dieser Auffassung standen Ulla Schmidt (SPD) und Horst Seehofer (CDU) gestern allerdings ziemlich einsam da. Wird doch der Richterspruch nach Einschätzung von Ärzteverbänden milliardenschwere Mehrausgaben zur Folge haben. Seit Jahren beklagen viele Krankenhausmediziner ihre notorische Überlastung. Marathon-Dienste von 30 Stunden sind keine Seltenheit, obwohl nach der europäischen Arbeitszeitrichtlinie von 1993 maximal zehn Stunden am Stück gearbeitet werden darf. Die arbeitsrechtliche Hintertür hier zu Lande heißt Bereitschaftsdienst. Dieser Job schließt sich zumeist nahtlos an den Arbeitstag im Spital an und gilt grundsätzlich als Ruhezeit. Einem Arzt, der zum Beispiel 16 Stunden Bereitschaftsdienst im Krankenhaus schiebt, werden lediglich acht Stunden als Arbeitszeit angerechnet. Damit ist nun Schluss. Fortan werden die 16 Stunden voll als Arbeitszeit gewertet. Schließlich müsse sich der Betroffene an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufhalten, argumentierte der Europäische Gerichtshof. Dass die deutschen Arbeitszeitregelungen auf wackligen Beinen stehen, war schon an einem früheren Urteil der Luxemburger Richter über spanische Ärzte ablesbar. Wohl auch deshalb legte Sozialministerin Schmidt fest, dass deutsche Krankenhäuser bereits in diesem und im nächsten Jahr bei den Kassen insgesamt 200 Millionen Euro für neues Personal und bessere Arbeitszeitmodelle abrufen können. Die gestern in erster Lesung behandelte Gesundheitsreform sieht dafür weitere 500 Millionen Euro bis zum Jahr 2009 vor. Sowohl Schmidt als auch Seehofer machten klar, dass es damit genug ist. Fehlende Mittel müssten durch "Eigenleistungen" der Krankenhäuser erbracht werden. Im Sozialministerium wird argumentiert, dass 40 Prozent der Krankenhäuser durch moderne Arbeitszeitmodelle keine Dauerdienste praktizieren. Der "Marburger Bund" macht eine andere Rechnung auf: Rund 15 000 Ärzte müssten nach dem Luxemburger Urteil zusätzlich eingestellt werden. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft geht gar von 41 000 zusätzlichen Stellen aus.

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