Zynischer Ratschlag: "Nimm dir einen Strick"

Der dramatische Abwärtsstrudel der amerikanischen Bankenwelt dauert an: Zum Wochenbeginn lagen an der New Yorker Wall Street die Nerven blank. Die Kreditkrise führte an den Börsen weltweit zu tiefen Einbrüchen.

Washington/New York. Der Investor, der am Wochenende im Internet-Forum der US-Traditionsbank Bear Stearns eine Message platzierte, bat um dringenden Rat: "Habe am Freitag noch 15 000 Aktien zu 30 Dollar gekauft. Meine Frau wird mich verlassen, wenn ich dieses Geld verliere. Was kann ich tun?" Die Antworten, die der Verzweifelnde daraufhin erhielt, waren wenig hilfreich - und vor allem von Zynismus geprägt: "Such dir eine Neue, die nicht nur aufs Geld scharf ist," riet ein Börsianer, während andere ungeniert dem Hilfesuchenden vorschlugen: "Nimm dir einen Strick." Kaum etwas demonstriert den Verfall der guten Sitten, die blank liegenden Nerven und die existenziellen Sorgen an der Wall Street besser als diese Episode aus der Finanzwelt, die sich in einem dramatischen Abwärtsstrudel befindet. Am Freitag noch stand das Investmenthaus Bear Stearns am Konkurs-Abgrund, sein Aktienkurs schloss bei 30 Dollar. Am Sonntag dann kam der Konkurrent JPMorgan - unterstützt von der US-Notenbank und ermutigt vom amerikanischen Finanzministerium - zu Hilfe und kaufte die durch die Kreditkrise schwerst beschädigte Bank mit 85-jähriger Tradition in einem Last-Minute-Deal für gerade einmal zwei Dollar pro Aktie. Das Ziel der Transaktion: Einer weltweiten Panik am gestrigen Handelstag vorzubeugen und einen "schwarzen Montag" zu vermeiden. "Ein Schleuderpreis", titelte gestern das "Wall Street Journal" und rechnete den Lesern vor, dass JPMorgan den Mitbewerber für 236 Millionen Dollar vereinnahmt habe, während der Unternehmenswert 48 Stunden zuvor noch 3,5 Milliarden Dollar betragen hatte. "Eine Wertvernichtung historischen Ausmaßes", urteilten Finanzexperten des Fernseh-Senders MSNBC - und versuchten gleichzeitig, vor der Eröffnung der Börse Panikstimmung zu vermeiden. Doch alle Zeichen standen - nicht nur in den USA, sondern auch in Europa und Asien - gestern wieder auf "verkaufen".Rettungsversuche kommen zu spät

Daran konnte zunächst auch der hektische Aktionismus der US-Notenbank nichts ändern, die zum einen am Wochenende ihre Bereitschaft erklärt hatte, bis zu 30 Milliarden Dollar der Bear- Stearns-Schulden abzusichern, und zum anderen den Zugang von Investmenthäusern zu billigem Geld deutlich erleichterte. Heute sollen zudem die Leit-Zinsen weiter sinken. Doch für viele kommen diese Rettungsversuche einer in den Seilen taumelnden Finanzindustrie viel zu spät. Er sehe "die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg", konstatierte gestern etwa der frühere Notenbankchef Alan Greenspan mit Blick auf die Konjunktur, die Immobilienpleiten und die Märkte. Dass in dieser Woche noch Bilanzzahlen anderer Geldhäuser wie Morgan Stanley und Goldman Sachs anstehen, trug nicht gerade zur Beruhigung der Lage bei. Bizarr wirkt in diesem Zusammenhang das Verhalten von US-Präsident George W. Bush, der am Freitag noch in New York vor Mitgliedern des "Economic Club" - also führenden Finanzbossen - den realitätsfernen Dauer-Optimisten gegeben hatte. Die Fundamente der Wirtschaft seien solide, so Bush, und man dürfe Finanzkrisen nicht mit staatlichen Überreaktionen entgegentreten. Doch schon 24 Stunden später zeigte das US-Finanzministerium mit seiner ungewöhnlichen Rückendeckung für die Subprime-Zocker bei Bear Stearns deutlich, welche Halbwertzeit die Bush-Worte selbst im eigenen Kabinett haben. Die Spottpreis-Übernahme von Bear Stearns, der fünftgrößten US-Investmentbank, bedeutet für die 14 153 Angestellten des Unternehmens jedenfalls nicht, dass diese auch ihren Arbeitsplatz behalten werden. Man sei vor allem am lukrativen Broker-Geschäft interessiert, ließ die Führung von JP Morgan verlauten. Andere Unternehmensbereiche dürften wohl liquidiert werden. Doch das ist noch nicht das Ende der Hiobsbotschaften für die Belegschaft des Traditionshauses: Fast alle Beschäftigten hatten ihre Alterversorgung auf Aktien des Finanz-Schiffes aufgebaut, das einst als "unsinkbar" galt. Noch im November lag der Kurs bei 150 Dollar. Wie blanke Ironie wirkt deshalb mittlerweile die Website das Unternehmens, wo Interessierte eine Analyse eines Bear-Stearns-Experten abrufen können. Titel des Aufsatzes: "Unruhe auf den Kreditmärkten: Welche Folgen wird dies haben?" hintergrund Zittern auch in Frankfurt: Das große Zittern an den internationalen Finanzmärkten ist zum Auftakt der Osterwoche weitergegangen - und machte auch vor der Frankfurter Börse nicht halt. Belastet von einer Gewinnwarnung bei Siemens, negativen Vorgaben aus Asien und einer Diskontsatzsenkung der US-Notenbank hatten die deutschen Aktienindizes bereits am Montagvormittag deutliche Verluste verbucht. Der Dax sackte bereits zu Handelsbeginn auf ein neues Jahrestief: Er verlor um 3,02 Prozent auf 6257 Zähler. Siemens-Aktien kamen nach einer Gewinnwarnung des Technologiekonzerns dabei regelrecht unter die Räder. Der Dax rutschte am Nachmittag gar um 4,14 Prozent auf 6185 Zähler ab und markierte damit den niedrigsten Stand seit Oktober 2006. In Asien waren die Börsen zuvor bereits abgesackt. Der dramatische Dollarverfall zum Yen angesichts der Angst vor einer globalen Kreditkrise ließ die Kurse an Tokios Börse einbrechen. Der Nikkei-Index für 225 führende Werte stürzte erstmals seit August 2005 unter die psychologisch wichtige Marke von 12 000 Punkten. Zum Handelsende notierte das Börsenbarometer einen Verlust von 454,09 Punkten oder 3,71 Prozent beim Stand von 11787,51 Punkten. extra Berlin sieht keinen Grund für Panik: Die Bundesregierung sieht die Folgen der weltweiten Finanzmarktkrise für Deutschland derzeit gelassen. Es gebe keinen Grund zur Panik und keine Anzeichen dafür, dass sich zusätzliche Belastungen für den deutschen Finanzmarkt ergeben könnten, sagte ein Sprecher von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) gestern in Berlin.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort