Als wäre ein guter Freund gestorben - Hamburg und die Republik nehmen Abschied von Helmut Schmidt

Hamburg · Es ist ein Staatsakt der persönlichen Worte. 1800 geladene Gäste verabschieden sich in der Hamburger Kirche St. Michaelis von Altkanzler Helmut Schmidt. Auf den Straßen verfolgen Tausende den Trauerzug durch die Stadt.

Hamburg. Ein Kranz aus Sonnenblumen liegt vor dem Sarg Helmut Schmidts, der in die deutsche Fahne gehüllt ist. Dahinter große Sträuße aus weißen Lilien. Die Grundfarben des Staatsaktes im Hamburger Michel sind hell. Und das passt zum Charakter des Verstorbenen. Wenn neben den vielen ernsten Fotos aus den Tagen des RAF-Terrors oder des Streits um den Nato-Doppelbeschluss etwas hängen geblieben ist im visuellen Gedächtnis, dann Schmidts manchmal regelrecht lausbübische Fröhlichkeit. Pastor Alexander Röder sagt, vielen sei es, "als wäre ein guter Freund gestorben".
Bei einem Staatsakt werden sonst oft Reden gehalten, die wie bessere gedruckte Lebensläufe sind. Hier nicht. Auffällig ist, wie persönlich die drei Hauptredner werden. Am meisten Henry Kissinger, der frühere Außenminister der USA, der mit Schmidt unendlich oft diskutiert hat. "Sechs Jahrzehnte lang haben wir beide über dieselben Probleme nachgedacht." Häufig in Schmidts bescheidenem Reihenhaus in Hamburg, in dem der Altkanzler vor zwei Wochen starb. "Unsere lange Freundschaft ist ein Pfeiler meines Lebens", sagt der 92-jährige Amerikaner. Kissinger wuchs in Fürth auf, ehe er 1938 in die USA emigrierte. Er spricht fließend Deutsch. Für ihn, der selbst ein ganz Großer der Weltgeschichte ist, ist Helmut Schmidt nichts weniger als "eine Art Weltgewissen". Kissinger: "Er erklärte uns die Weltläufe und erinnerte uns an unsere Pflicht".
Vor sechs Jahren, bei Schmidts 90. Geburtstag, hatte Kissinger gesagt, er hoffe, vor dem Deutschen zu sterben, denn sonst werde die Welt leer sein. Jetzt ist dieser Punkt gekommen, doch Kissinger sagt nun, er habe sich geirrt. Für ihn bleibe Schmidt auch nach dem Tod präsent. Der Amerikaner wirkt sehr in sich gekehrt, als er nach seiner Rede wieder in der ersten Reihe sitzt und auf den Sarg starrt. Gleich daneben sitzt Frankreichs Ex-Präsident Valery Giscard d'Estaing und blickt ebenfalls sehr ernst. Auch er ein enger Freund. Helmut Schmidt hat sich für seine Trauerfeier zwei der schönsten deutschen Volkslieder gewünscht. "Der Mond ist aufgegangen" von Matthias Claudius. Und das Lied "Mien Jehann" des plattdeutschen Lyrikers Klaus Groth. "Ich wollte, wir wären noch klein Johann, da war die Welt so groß", lautet die erste Zeile in der Übersetzung. Im Michel ist es dabei mucksmäuschenstill.
Auch Angela Merkel spricht sehr persönlich. Hamburg ist ihre Geburtsstadt, und im Februar 1962 hing sie in Templin/DDR am Radio, als die Hansestadt überflutet wurde und sie Angst um ihre dort gebliebenen Angehörigen hatte. Sie hörte Schmidts Stimme damals, schildert sie. "Wir haben ihm vertraut, dass er die Lage in den Griff bekommt, und so war es dann auch." Wie Merkel Schmidts Kanzlerschaft würdigt, lässt angesichts ihrer eigenen Auseinandersetzungen in der Flüchtlingsfrage aufhorchen. "Er war standhaft", sagt sie. "Wenn er überzeugt war, das Richtige zu tun, dann tat er es. Auch um den Preis seiner Kanzlerschaft." Angela Merkel verneigt sich nach der Rede vor dem Sarg, so wie vor ihr Kissinger, so wie Olaf Scholz: Der Hamburger Bürgermeister ernennt Schmidt zum größten Kind der Hansestadt, unter den vielen Großen, die Hamburg schon hervorgebracht hat. "Wir haben einen Giganten verloren."
1800 Ehrengäste sind zum Staatsakt gekommen, fast das komplette Kabinett, viele Ministerpräsidenten. Alle Altbundespräsidenten sind da, auch Christian Wulff sitzt wieder mit seiner Gattin Bettina in dieser Reihe. Joachim Gauck geleitet Schmidts einzige Tochter Susanne an den Sarg, dahinter geht Schmidts letzte Lebensgefährtin Ruth Loah. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz repräsentieren Europa, das Schmidt so am Herzen lag. Scholz spricht sie direkt an und erinnert an Schmidts Vermächtnis, alles für die weitere europäische Einigung zu tun, damit sich - Scholz zitiert Schmidt ungefiltert - "die große Scheiße des Krieges nicht wiederholt".
Tausende stehen in Hamburg am Straßenrand, als der Sarg später nach Ohlsdorf gefahren wird, wo der Leichnam eingeäschert und dann im engsten Familienkreis beigesetzt wird. Sie und ein stahlblauer, wolkenloser Himmel geben dem Altkanzler das letzte Geleit. Viele Menschen applaudieren. Der Michel läutet. Am Tag der Beisetzung schon gibt es die erste Namensgebung nach Helmut Schmidt. Das Auswärtige Amt benennt den Großen Saal in der Villa Borsig in Berlin, dem Gästehaus, nach dem Altbundeskanzler. In dem Raum finden internationale Konferenzen statt, zuletzt ein Außenminister-Treffen zum Ukraine-Konflikt.
Es wird nicht die einzige Erinnerung in Deutschland an diesen Kanzler bleiben.

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