Brüsseler Chaostage

Brüssel · Der Gipfel in Brüssel startet unter schlechten Vorzeichen. Den Finanzministern ist es wieder nicht gelungen, einer Lösung der Griechenland-Krise näherzukommen. Die Staats- und Regierungschefs sind gefordert, ob sie wollen oder nicht.

Brüssel. Es ist ein Tag am Rande des Irrsinns. In drei Brüsseler Gebäuden, keine hundert Meter auseinander, tagen parallel die politischen Anführer Europas, um - irgendwie doch noch, vielleicht, diesmal aber wirklich, oder auch wieder nicht - den vorläufigen Schlussakt dieses griechischen Dramas aufzuführen, das die Währungsunion nun seit Wochen in Atem hält.
Kurz nach Mittag fahren die ersten Finanzminister vor. Zum dritten Mal diese Woche. Zwei eigens angesetzte Sondersitzungen haben sie unverrichteter Dinge verlassen, am Montag und Mittwoch. Und wer gehört hat, dass der Finne Alexander Stubb da schon von einer "Verschwendung von Flugmeilen" gesprochen hat, kann sich ausmalen, wie die Stimmung jetzt ist. Mit versteinertem Blick, wortlos, ist Wolfgang Schäuble am Mittwoch enteilt - im Wissen, das Staatsbankett mit der Queen in Berlin umsonst verpasst zu haben.
Seine Geduld wird auch an diesem Tag strapaziert: Der für 13 Uhr geplante Sitzungsbeginn wird fürs Erste um eine halbe Stunde nach hinten verlegt. Um die Mittagszeit nämlich fehlen weiter die entscheidenden Papiere. Das Prozedere sieht vor, dass vor jedem Beschluss zu neuen Hilfskrediten die jeweilige Regierung, in diesem Fall die griechische, sich erst mit EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds auf die Grundzüge eines Spar- und Reformprogramms einigen muss. Aber sie kommen - trotz stundenlanger Verhandlungen bis in die Nacht - einfach nicht zusammen.
Dabei ist die Uhr so gut wie abgelaufen. Am Mittwoch nämlich, dem 1. Juli, verfallen insgesamt 18 Milliarden Euro aus dem zweiten Hilfsprogramm, die für Griechenland noch zur Verfügung stehen.
Und dann? Es gibt Ökonomen und Politiker, die Staatspleite und "Grexit" für beherrschbar halten, gar als Chance für eine Stärkung der Währungsunion betrachten. Schäuble wird ihnen zugerechnet. Andere sehen darin nicht weniger als den Anfang vom Ende des europäischen Einigungsprojektes.
Im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes tagt der Krisenstab. Im Domizil von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sind Büros freigeräumt worden für die verschiedenen Delegationen. Auch für die griechische natürlich, zeitweise bis zu acht Mann stark, angeführt von Premierminister Alexis Tsipras, der seit Mittwochmittag ununterbrochen in Brüssel weilt.
Zur Wohngemeinschaft auf Zeit gehört auch Zentralbankchef Mario Draghi, der das französische Direktoriumsmitglied Benoît C{oelig}uré und weitere Finanzexperten im Schlepptau hat. IWF-Chefin Christine Lagarde hat ihren Stab dabei, der weitere Computer belegt und mit den rechnenden Kollegen in Washington Rücksprache hält. Wie viel muss andernorts eingespart werden, wenn Athen diese und jene Steuer weniger stark anheben will als gefordert? Mit von der Partie im Verhandlungscamp sind auch EuroGruppenchef Jeroen Dijsselbloem aus den Niederlanden und sein österreichischer Mitarbeiter Thomas Wieser.
Gastgeber Juncker schließt sich Diplomaten zufolge ständig mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef François Hollande kurz und hat nach eigenem Bekunden nur drei Stunden geschlafen, sein deutscher Kabinettschef Martin Selmayr angeblich noch weniger.
Am frühen Nachmittag wird klar, dass man sich kaum oder auch gar nicht angenähert hat - dazu gibt es verschiedene Aussagen. Statt des einen gemeinsamen Dokuments, auf das alle warten, gibt es jedenfalls zwei - eines der Gläubiger-Institutionen und ein separates der Griechen. Athen habe sich, so der Bundesfinanzminister, "nicht bewegt, eher rückwärts bewegt, und deswegen bin ich auch für unsere Sitzung heute nicht sehr zuversichtlich".
Fast parallel dazu blinkt auf dem Handy eine SMS aus dem Kanzleramt auf. Ein erneuter Euro-Sondergipfel in der Nacht - wenn die Staats- und Regierungschefs mit den auch sonst nicht eben unwichtigen Themen Eurozonen-Reform, britischem Referendum und Flüchtlingskrise durch sind - wird nicht mehr ausgeschlossen. Im Umfeld des EU-Ratsvorsitzenden Donald Tusk heißt es, er halte sich diese Option offen, falls wieder nichts gehen sollte. Dabei sah es nach dem Sondergipfel vom Montag noch so gut aus. Gemeinsam hatten die "Chefs" die neue griechischen Reformliste als gute Grundlage für eine Einigung bezeichnet. Doch das scheint schon Ewigkeiten her zu sein.
Die Brüsseler Gerüchteküche brodelt, wenn es um die Frage geht, warum die Annäherung wieder in gegenseitige Anschuldigungen umgeschlagen ist. Es gibt jene, die der festen Überzeugung sind, dass manche in Athen gar keine Einigung, sondern die Zahlungsunfähigkeit wollen, weil damit die großen Gläubiger Deutschland und Frankreich zu Verhandlungen über einen Schuldenschnitt gezwungen würden. Als Beweis führt ein hochrangiger EU-Beamter eine Begebenheit vom Mittwochabend an: Da habe sich Tsipras, einen fertigen Deal in der Tasche, mit seinem Finanzminister Gianis Varoufakis getroffen, der das Paket abgelehnt habe. "Varoufakis führt die Hardcore-Linke an", folgert der Beamte, "er ist der wirklich starke Mann in Athen".
Das Griechenland-Drama wäre aber nicht das Griechenland-Drama, wenn es nicht auch eine völlig entgegengesetzte Sichtweise gäbe. Sie registriert die viele rote Farbe, mit der die Troika-Institutionen das Dokument des griechischen Reformvorschlags zerpflückt haben. "In manchen Kreisen würde es gern gesehen", berichtet ein belgischer Regierungsvertreter, "wenn die linke Syriza-Regierung über diese Sache stolpert". EuroGruppenchef Dijsselbloem kennt diese Vorwürfe und widerspricht der Demütigungs-These: "Wir haben viel Flexibilität gezeigt in den Verhandlungen."
Als die Staats- und Regierungschefs am späten Nachmittag zum Gipfel eintreffen, haben die Angebote an Athen - wenn es sie denn wirklich gegeben hat - noch nicht zu einer Einigung geführt.
Vor den Kameras werden die Nuancen sichtbar, die etwa zwischen der Berliner und der Pariser Position liegen. "Eine Einigung ist möglich und wir sind nah dran", sagt Frankreichs Staatschef Hollande in die Mikrofone. "An manchen Stellen hat man den Eindruck, dass wir sogar ein bisschen zurückfallen", meint dagegen Kanzlerin Merkel. "Die Deutschen erhöhen den Einsatz", kommentiert der Diplomat eines Nachbarlandes sofort.
Merkel will die weiteren Gespräche nun auch wieder ganz den Finanzministern im Nebengebäude überlassen, ihrem harten Hund Schäuble: "Der Europäische Rat wird sich nicht in die Verhandlungen einmischen." Die Finanzminister tagen zu diesem Zeitpunkt aber schon gar nicht mehr, haben für Samstag eine neue Sitzung angesetzt.
Die Runde der Chefs berät sich am Abend zwar auch für knapp zwei Stunden, aber sie kommen, wie Diplomaten versichern, "in sehr zivilisierter Atmosphäre" zu dem Schluss, dass sie die Detailverhandlungen nicht führen werden. Also kein Eurogipfel in der Nacht und auch nicht am Freitag. Sie haben zwar viel gelächelt, als sie kurz zuvor den Sitzungssaal betreten haben, aber in den Zweiergesprächen, die die Kameras vor Sitzungsbeginn noch zeigen, verdunkeln sich die Mienen deutlich. Draghi redet lange mit Hollande, Tsipras erst besorgt mit Europaparlamentspräsident Martin Schulz, dann mit Italiens Matteo Renzi. Zuversicht sieht anders aus.

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