Der Papst, die Lehrerin und die Suche nach Europas Seele

Straßburg · Papst Franziskus hat das EU-Parlament und den Europarat in Straßburg besucht. In seinen Reden forderte er eine gemeinsame Flüchtlingspolitik in Europa und appellierte daran, die Menschenwürde mehr in den Fokus zu rücken.

 Wiedersehen nach Jahrzehnten: Der Papst trifft seine ehemalige Vermieterin Helma Schmidt. Bei ihr in Boppard wohnte Jorge Bergoglio 1985 während eines Deutschkurses. Mit im Bild Parlamentspräsident Schulz. Foto: EU

Wiedersehen nach Jahrzehnten: Der Papst trifft seine ehemalige Vermieterin Helma Schmidt. Bei ihr in Boppard wohnte Jorge Bergoglio 1985 während eines Deutschkurses. Mit im Bild Parlamentspräsident Schulz. Foto: EU

Straßburg. Martin Schulz, nach eigenem Bekunden nicht der religiöseste aller Menschen, ist beseelt. Bescheiden, weich, sanft, sei dieser Mensch, heißt es nach der privaten Unterredung mit Papst Franziskus aus dem Umfeld des Präsidenten des Europaparlaments. Der Faszination des Papstes können sich auch die spanischen Kommunisten im Europaparlament nicht entziehen, die zuvor angekündigt hatten, den Saal zu verlassen, wenn der Pontifex im Straßburger Plenarsaal auftrete.

Protestaktionen wie beim Besuch von Johannes Paul II. vor 26 Jahren bleiben aus, die meisten lauschen gebannt. "Papst Franziskus ist eine Persönlichkeit, die Orientierung gibt in Zeiten der Orientierungslosigkeit", hat Martin Schulz zuvor zur Begrüßung gesagt. Übersetzt werden muss dem Papst dieses Lob nicht - denn auch sein gutes Deutsch ist Teil der Geschichte dieses nur vierstündigen Besuchs beim Europaparlament.

Schon am Straßburger Flughafen hat der oberste Repräsentant einer Milliarde Katholiken deutsch gesprochen - mit Kardinal Reinhard Marx, der derzeit nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Bischofskonferenz vorsteht. Gelernt hat der Papst die Sprache am Küchentisch von Helma Schmidt. Die heute 97-Jährige war 1985 am Goethe-Institut von Boppard in Rheinland-Pfalz tätig, als ein argentinischer Priester namens Jorge Mario Bergoglio dort einen Deutschkurs besuchte. Der Unterricht ging in Schmidts Wohnung weiter, wo der künftige Papst zwei Monate lang wohnte. Zum Wiedersehen in Straßburg umarmt er sie freudig. Private Unterredungen gibt es auch mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Italiens Premier Matteo Renzi. Im Mittelpunkt aber steht seine Rede. "Der Papst", wird Parlamentspräsident Schulz später sagen, "hat uns einiges ins Stammbuch geschrieben".

Zentrales Thema der Ansprache ist die Menschenwürde und der Verlust derselben, wenn die individualisierte Gesellschaft sich nicht mehr ausreichend um ihre schwächsten Mitglieder kümmert. Die EU-Flüchtlingspolitik - das war spätestens seit Franziskus' Besuch auf Lampedusa kurz nach seinem Amtsantritt klar - ist ihm ein besonderer Dorn im Auge. "Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird", mahnt er - und kritisiert "das Fehlen gegenseitiger Unterstützung", was als eindeutiger Seitenhieb auf das sogenannte Dublin-System verstanden wurde, das Abschiebungen in jene EU-Staaten ermöglicht, in dem ein Flüchtling zuerst europäischen Boden betritt.

Franziskus liest Europa jedoch nicht nur die Leviten - er will dem "Bild eines etwas gealterten und erdrückten Europas" auch eine "Botschaft der Hoffnung und Ermutigung" entgegensetzen. Die Europaabgeordneten sollten beispielsweise "daran arbeiten, dass Europa seine gute Seele wiederentdeckt". Und der Papst buchstabiert ganz konkret vor, was er darunter versteht: "Die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person."Extra: Das sagt der Papst

"Einer ausgedehnteren, einflussreicheren Union scheint sich jedoch das Bild eines etwas gealterten und gedrückten Europas zuzugesellen. (...). Indem ich mich heute an Sie wende, möchte ich aufgrund meiner Berufung zum Hirten an alle europäischen Bürger eine Botschaft der Hoffnung und der Ermutigung richten. Eine der Krankheiten, die ich heute in Europa am meisten verbreitet sehe, ist die besondere Einsamkeit dessen, der keine Bindungen hat. (...).

Gleichermaßen ist es notwendig, gemeinsam das Migrationsproblem anzugehen. Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird! Auf den Kähnen, die täglich an den europäischen Küsten landen, sind Männer und Frauen, die Aufnahme und Hilfe brauchen. Das Fehlen gegenseitiger Unterstützung innerhalb der Europäischen Union läuft Gefahr, partikularistische Lösungen des Problems anzuregen." dpaExtra: Der Papst im Europarat

Der Papst würdigte die Arbeit des Europarates bei der Suche nach einer politischen Lösung der gegenwärtigen Krisen. Zu aktuellen Konflikten äußerte er sich nicht. Scharf wandte sich das Oberhaupt der katholischen Kirche gegen einen religiösen und internationalen Terrorismus, durch den der Frieden auf die Probe gestellt werde. Ansprache des Papstes im Europarat (externer Link)


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