"Der wird einen schweren Abend haben"

Brüssel · Aufgeladene Stimmung im EU-Parlament: Wütende Europapolitiker machen aus ihrer Empörung über die Briten keinen Hehl. Premier Cameron muss sich auf was gefasst machen. Kanzlerin Merkel dagegen lenkt den Blick nach vorn.

Brüssel. Von wegen Eurokraten: In der Stunde der Not zeigt Europa Gefühle. Sie sind traurig, sie sind wütend, sie sind empört. Hart gesottene Politikerpersönlichkeiten lassen bei der kurzfristig anberaumten Sondersitzung des Europaparlaments zum Brexit ihren Gefühlen freien Lauf. Auch das ist ein Zeichen, wie ernst die Lage in Brüssel begriffen wird: Alle 29 Kommissare sind anwesend, als Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in der Sitzung das Wort ergreift. Von den Europa-Gegnern unter den Abgeordneten brandet ihm umgehend der Spott entgegen. Darauf wechselt Juncker vom Französischen ins Englische und meint: "Ihr habt für den Brexit gekämpft, warum seid ihr jetzt eigentlich noch da?" Die Botschaft: Sie haben hier nichts mehr zu suchen.
Juncker will dann sagen, dass er traurig ist. Wieder kommen hämische Bemerkungen. Darauf Juncker: "Ich bin kein Roboter, ich habe das Recht zu sagen, dass ich traurig bin." Ein sichtlich aufgewühlter wie kämpferischer Juncker tritt dann den Gerüchten, er denke an Rücktritt, entgegen: "Ich bin nicht müde, ich bin nicht krank, ich werde bis zu meinem letzten Atemzug für ein vereintes Europa arbeiten."
Der Anführer der britischen Europa-Gegner, Nigel Farage, sitzt nur zwei Plätze von Juncker entfernt. Vor sich in der ersten Parlamentsreihe hat er eine Tischfahne mit dem britischen Unionjack aufgepflanzt. Er kommt nicht weit. "Guten Morgen. Lustig, oder?" Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) muss die buhenden Abgeordneten zur Ordnung rufen: "Auch diejenigen, die eine andere Meinung haben, dürfen sie sagen. Dies zeichnet unser Haus aus."
Dann kann Farage reden und wird zynisch: Als er vor sieben Jahren in Brüssel angefangen und sein Ziel erklärt habe, sein Land aus der EU zu führen, sei er ausgelacht worden. "Jetzt lachen Sie nicht mehr."
Wenig später fahren drüben vor dem Ratsgebäude die Regierungschefs zum Gipfel vor. Auch dort ist es ein Tag der Emotionen. EU-Ratspräsident Donald Tusk sagt, er fühle sich, als sei jemand aus seinem Elternhaus gestorben. Der Brexit sei nicht nur eine Frage von Interessen, Märkten und Geld. Ihm werde beim Abschied bewusst, "wie schön das Haus vorher war".
Kanzlerin Angela Merkel tritt eher nüchtern auf: "Dies wird die erste Möglichkeit sein, vom britischen Premierminister persönlich eine Einschätzung zu bekommen." Sie deutet an, dass man bald wieder nach vorn gucken muss: "Lösungen müssen gefunden werden, um Europa weiterzuentwickeln." Dabei könnte der Schwerpunkt im sozialen Bereich liegen: Sie erwähnt als erstes Arbeitsplätze, dann Wirtschaft, dann Wettbewerb. Hier sollten die 27 verbliebenen Mitglieder möglichst geschlossen ansetzen.
Sehr kühl tritt derjenige auf, der der EU dieses Schlamassel eingebrockt hat. Der britische Premier David Cameron: "Britannien wird die EU verlassen." Er hoffe, dass der Prozess dahin und das Ergebnis so konstruktiv wie möglich ausfielen. Beim Abendessen soll er den anderen 27 Rede und Antwort stehen. Trotz aller britischen Distanz: Entkommen wird Cameron der Wut seiner Kollegen nicht. Ein hochrangiger Politiker in Brüssel prophezeit: "Der wird einen schweren Abend haben."Extra

Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders ist mit einer Initiative für eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft der Niederlande gescheitert. Sein Antrag wurde am Dienstag von einer überwältigenden Mehrheit des Parlaments in Den Haag abgelehnt. Nur 14 der 75 Abgeordneten stimmten dafür. Wilders hatte die Regierung aufgefordert, so schnell wie möglich ein Referendum über einen "Nexit" auszuschreiben. dpaExtra

Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon reist heute zu Gesprächen über Schottlands künftige Rolle in der EU nach Brüssel. Sie trifft dort EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Sie sei entschlossen, "Schottlands Beziehung zur EU zu bewahren", sagte Sturgeon gestern. Sollte sich eine Unabhängigkeit als geeignetster Weg dazu erweisen, wolle sie dem Parlament in Edinburgh einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten. Über 60 Prozent der schottischen Wähler hatten gegen den Brexit gestimmt. dpa

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