Die Lebenswirklichkeit Tod erreicht den Bundestag

Berlin · Mit intensiven und sehr persönlichen Beiträgen haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gestern über Sterbehilfe debattiert. Einigkeit herrscht dar-über, dass die Palliativmedizin ausgebaut werden muss.

Berlin. Die Stimme von Lisa Paus erstickt fast. Die 46-jährige Grünen-Abgeordnete schildert das lange Sterben ihres krebskranken Lebensgefährten im vorigen Jahr. Mit großer Energie hatte er sich Gifttabletten besorgt, schildert Paus. Sie hätten ihm das Gefühl von Selbstbestimmung gegeben. "Am Ende hat er sie nicht genommen."
Viele Abgeordnete geben Paus Beifall, auch die, die nicht ihrer Meinung sind, dass es Ärzten und sogar Vereinen erlaubt sein soll, Verzweifelten beim Sterben zu helfen. Das Leben ist im Bundestag angekommen, in Form des Todes. Die Zuhörer auf der Tribüne spüren wohl, dass die Abgeordneten da unten selbst Schicksale haben.
Aber es gibt auch genau die gegenteilige Schlussfolgerung aus ähnlichen Erlebnissen. Franz Müntefering etwa wird immer wieder zitiert. Der Ex-SPD-Chef, der seine erste Frau bis zum Tod gepflegt hat, hat sich per Interview von außen in die Debatte eingemischt: Wo ziehe man die Grenze, ab der Sterbehilfe erlaubt sei, hat er gefragt. "Sind das drei Tage Lebenserwartung oder drei Jahre?"
Gleich der erste Redner, der CDU-Abgeordnete Michael Brand ("Krankheit und Tod saßen bei uns zu Hause immer mit am Tisch"), nimmt darauf Bezug. Er vertritt die Position, dass alle Sterbehilfevereine, ob kommerziell oder nicht, verboten werden sollen, ebenso die Werbung für sie. Denn, so Brand, wenn man die Tür zur Sterbehilfe erst einmal einen Spalt breit öffne, bekomme man sie nicht mehr zu. Die meisten Abgeordneten der Unionsfraktion, aber auch etliche aus den anderen Parteien, klatschen.47 Redner melden sich zu Wort


Die Aussprache dauert fast fünf Stunden und ist ausdrücklich als Orientierungsdebatte gekennzeichnet. Jeder soll sich seine Meinung frei bilden dürfen. 47 Abgeordnete melden sich zu Wort, jeder hat fünf Minuten, ob Hinterbänkler oder Minister.
Es zeigt sich in einer Frage ein überwältigender Konsens: Die Behandlung und Versorgung Sterbender muss erheblich ausgebaut werden. Vor allem die Befürworter strikter Sterbehilfe-Verbote bieten das als Alternative an. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), der diesem Lager angehört, hat erst in dieser Woche dazu ein erstes Konzept vorgelegt. Zweite Übereinstimmung: Eine überwältigende Mehrheit will die organisierte Sterbehilfe verbieten, die kommerzielle zumal. Was bleibt, ist ein Konflikt um die Rolle der Ärzte, denn dass es Notsituationen gibt, in denen sie angefleht werden zu helfen, bestreitet kein Redner. Manche Abgeordnete zitieren den hippokratischen Eid, der es ausdrücklich verbietet, jemandem ein Gift zu geben, "auch auf eine Bitte nicht". Sie unterschlagen freilich, dass es die längst nicht mehr benutzte 2400 Jahre alte griechische Fassung ist, in der im nächsten Satz auch steht, dass der Arzt nicht bei einer Abtreibung helfen darf.
Auf der Zuhörertribüne sitzt der Chef der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, ein strikter Gegner ärztlicher Sterbehilfe. Er findet die Debatte insgesamt "herausragend" und sagt auf Anfrage, es müsse immer die oberste Leitlinie seines Berufsstandes bleiben, Leben zu retten. "Wir dürfen das Ziel unseres Handelns nicht infrage stellen." Innerhalb dieses Grundsatzes aber sei manches erlaubt, darunter auch die hochdosierte Sedierung von Todespatienten. "Das wird oft übersehen."

Die Diskussion wird intensiv weitergehen. Anhörungen mit Experten und zwei weitere Großdebatten sind angekündigt. Denn, so Parlamentspräsident Norbert Lammert, "es handelt sich um das vielleicht anspruchsvollste Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode".

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