Giulia, Marisol und die anderen: Italien verneigt sich vor den Toten

Rom (dpa) · Wieder trägt Italien die Opfer eines Erdbebens zu Grabe. Bei der bewegenden Trauerfeier für die Toten der Katastrophe im Apennin müssen sich die Regierenden den Fragen der Hinterbliebenen stellen.

Hier ein vergilbtes Foto, dort ein Plüschtier, etwas weiter Spielzeug und ein Rosenkranz - die Menschen haben mitgebracht, was sie aus den Resten ihrer zerstörten Häuser noch retten konnten. Kleine Erinnerungen an jene, die noch vor wenigen Tagen lebten, Spuren von brutal aus dem Leben gerissenen Menschen. Für manche hatte es noch nicht einmal richtig begonnen, das Leben.

Die Mitbringsel liegen am Samstag auf den 35 Särgen in der Sporthalle in Ascoli Piceno in den mittelitalienischen Marken. Sie lassen erahnen, welch erschütterndes Ausmaß die Erdbebenkatastrophe für die Hinterbliebenen der mehr als 290 Toten hat. Vor allem in den Bergdörfern Amatrice und Accumoli in Latium und in Pescara del Tronto in den Marken wurden die Menschen unter Trümmerbergen begraben.

Bei brütender Hitze haben sie sich versammelt - Staatspräsident Sergio Mattarella, Regierungschef Matteo Renzi, Abgeordnete und Honoratioren, Geistliche und Generäle. Das Staatsfernsehen RAI überträgt live, ganz Italien verneigt sich vor den Toten in den Bergdörfern des Apennin.

Vor dem improvisierten Altar mit dem noch schnell an der Wand befestigtem Kruzifix, das aus einer der zerstörten Kirchen gerettet wurde, stehen ihre Särge. In vier Reihen, dazwischen sitzen oder stehen Verwandte und Freunde, reichen sich die Hände, umarmen sich. Die Überlebenden des Erdbebens trauern gemeinsam.
„Solche Katastrophen können den Menschen alles nehmen, außer den Mut des Glaubens“, sagt fast trotzig Bischof Giovanni D'Ercole aus Ascoli Piceno. Ob er die Gemeinde damit erreicht, etwa die Hinterbliebenen der kleinen Marisol, die mit 20 Monaten unter dem Dach ihres eingestürzten Elternhauses starb? „Sie ist jetzt bei den Engeln“, hat jemand auf einen Zettel auf ihrem winzigen weißen Sarg geschrieben.

Oder die Mutter der achtjährigen Giulia. „Ciao, Mama wird Dich immer lieben“, sagt die Frau, die selbst schwer verletzt wurde und am Freitagabend auf einer Krankenliege in den „Palazzetto dello Sport“ gebracht wurde. Dann drückt sie ein Foto ihrer Tochter auf ihr Gesicht.
Giulia hatte während des Erdbebens ihre kleine Schwester Giorgia schützend umarmt. Die Vierjährige war nach 16 Stunden lebend aus den Trümmern ihres Kinderzimmers in Pescara del Tronto geborgen worden - vermutlich geschützt durch den Körper von Giulia. Es gehört wohl zu den tragischen Zufällen, dass Giorgia ausgerechnet am Samstag vier Jahre alt wurde, gerade als ihre Schwester zu Grabe getragen wurde.

Als Bischof D'Ercole die Namen der 35 Toten vorliest, geht ein Schluchzen durch die Halle, viele schütteln verzweifelt den Kopf, einige erleiden einen Schwächeanfall. Die Menschen hier sind schwer gezeichnet, können noch gar nicht recht begreifen, was da in der verhängnisvollen Nacht zum Mittwoch eigentlich passiert ist.
Nach der Feier begibt sich Präsident Mattarella unter die Trauernden, spricht ihnen Mut zu, versucht zu trösten. Premier Renzi steht abwartend an der Seite. Er ahnt, dass die Überlebenden jetzt Antworten von ihm erwarten, die Italien längst haben müsste.

Wie kann es sein, dass der Erdbebenschutz in den Gebäuden zwar gesetzlich gefordert, von den Behörden aber nicht durchgesetzt wird? Wie viel Geld steht für den Wiederaufbau zur Verfügung? Wo sollen die Menschen, die ihre Bleibe und ihr ganzes Hab und Gut verloren haben, nun unterkommen? Müssen sie noch im Herbst die bitterkalten Nächte in den Zeltlagern in den Bergen verbringen?

Dann schreitet Renzi doch zu den Hinterbliebenen und nimmt sich Zeit für Gespräche. Noch am Donnerstag hatte er seine Landsleute aufgerufen, sich um den Schutz des „Hauses Italien“ zu kümmern und endlich mit der Sicherung ihrer Wohnungen ernst zu machen. „Ihr müsst sagen, was für Euch besser ist“, bittet Renzi dann eine Gruppe von Hinterbliebenen. „Wir können nicht alles aus Rom entscheiden.“ Auch er wirkt hilflos angesichts dieser Tragödie.
Dann geht der Ministerpräsident mit seiner Frau und den Leibwächtern aus der Halle. Vorbei an den Särgen, den Kränzen, den Blumen. Es war nicht die letzte Trauerfeier für die Toten der Erdbebenkatastrophe. Staatsanwaltschaft untersucht Verstöße gegen Bauordnung in Italien

Die Staatsanwaltschaft in der italienischen Provinz Rieti untersucht, ob in der Erdbebenregion gegen Bauvorschriften verstoßen wurde. „Was da passiert ist, kann nicht nur als Unglück gesehen werden“, zitierte die Tageszeitung „La Repubblica“ am Samstag Staatsanwalt Giuseppe Saieva. Bei einigen der zerstörten Häuser sei „mit mehr Sand als Zement“ gebaut worden. Vor allem der Einsturz einer erst kürzlich renovierten Grundschule in Amatrice hatte für Aufsehen gesorgt. Bisher seien aber keine Verdächtigen identifiziert worden.

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