"Keinem Versicherten wird es schlechter gehen"

Trier/Mainz · Die Kommunen sollen noch stärker mitreden, wenn es um eine bedarfsgerechte Pflegeversorgung im Land geht. Das "Modell Polen" könnte dann zum Auslaufmodell werden. Das glaubt Gesundheitsminister Alexander Schweitzer.

Trier/Mainz. Im Exklusiv-Interview mit dem Trierischen Volksfreund erläutert Gesundheitsminister Alexander Schweitzer, wie Rheinland-Pfalz die Herausforderungen für pflegerische und medizinische Versorgung bewältigen will. Die Fragen stellte TV-Redakteur Rainer Neubert. Der demografische Wandel zwingt zum Handeln, auch im Bereich Pflege. Wie will das Land die bröckelnde Versorgung auf dem Land sichern?Alexander Schweitzer: Insgesamt haben wir noch eine gute pflegerische Versorgung in Rheinland-Pfalz. Allerdings mit regionalen Unterschieden. Hier in der Region Trier hat natürlich der Arbeitsmarkt Luxemburg einen Einfluss. Fachpersonal wandert oft ab. Auch der Pflegemarkt ist in Bewegung. Neue Angebote entstehen. So haben wir heute rund 450 ambulante Pflegedienste. 2005 waren es noch 370. Aber welches Angebot wird wo gebraucht? Vor Ort kennt man die Situation sehr gut. Deshalb wollen wir die Kommunen stärker mit ins Boot nehmen. Diese haben heute schon die Verantwortung für die kommunale Pflegestrukturplanung. Im nächsten Schritt - der noch durch die Bundesgesetzgebung ermöglicht werden muss - sollen die Kommunen auch mitreden, wie sich die Struktur weiterentwickelt. Es war die Idee von Rheinland-Pfalz, in einer Bund-Länder AG genau an dieser Frage zu arbeiten. Ich bin sicher: Die bedarfsgerechte Planung und Steuerung vor Ort wird am Ende auch dazu führen, dass wir dem Fachkräftemangel besser begegnen können.Ärztliche Versorgung und Pflegeangebot gehen Hand in Hand. Das Land plant, mit dem Projekt VeraH Versorgungsassistentinnen als eine Art Hilfsärzte für ländliche Regionen zu qualifizieren. Von den Pflegeverbänden wird das kritisch gesehen, weil dieses Angebot angeblich mit den Aufgaben der Fachpflege konkurrieren würde. Schweitzer: Ich gehe mit dieser Kritik sehr ernsthaft um. Die 180 Versorgungsassistentinnen, die wir derzeit mit einem eigenen Stipendium in Rheinland-Pfalz als Teil meines Zukunftskonzepts "Gesundheit und Pflege - 2020" auf den Weg bringen, sind nicht dazu da, der Pflege Konkurrenz zu machen. Sie sollen dem Arzt die dringend notwendige Entlastung bringen. Für die ambulante Pflege wird es in der Zukunft keinen Mangel an Arbeit geben.Die Kritik bezieht sich auch auf die Qualität. Mit einer Zusatzausbildung von fünf Wochen sollen medizinische Fachangestellte plötzlich an den Menschen arbeiten?Schweitzer: Die Versorgungsassistentinnen agieren nicht im Bereich der Behandlungspflege, also dem Kerngeschäft der ambulanten Krankenpflege. Vielmehr sollen die VeraHs den Arzt entlasten, abhängig von der medizinischen Diagnose. Sie werden überwiegend in der Arztpraxis aktiv sein, aber auch bei Hausbesuchen helfen. Bei Tätigkeiten wie der Blutzuckermessung gibt es Überschneidungen mit der ambulanten Pflege. Ich habe angekündigt, dass wir uns das Miteinander von VeraHs und ambulanter Pflege ein Jahr lang ansehen werden. Sollte es zu falschen Konkurrenzen kommen, werden wir dafür sorgen, dass diese abgestellt werden. Im Zusammenhang des Programms "Gesundheit und Pflege 2020" sprechen sie von Medizinischen Gesundheitszentren als wichtigem Element, um die Versorgung in der Fläche zu sichern. Wie könnte man sich so etwas konkret für die Eifel oder den Hunsrück vorstellen? Schweitzer: Als Alternative zum klassischen Krankenhaus. Besonders kleine Kliniken werden in Zukunft wirtschaftlich zu kämpfen haben. Statt sie zu schließen und die medizinische Versorgung für die Region zu verschlechtern, entsteht mit den Gesundheitszentren eine Zwischenwelt zwischen stationärer und ambulanter Versorgung. In Neuerburg in der Eifel probieren wir auch die enge Zusammenarbeit mit der Pflege aus. Die ersatzlose Schließung des Krankenhauses konnte verhindert werden. Darauf bin ich stolz. Das Land Rheinland-Pfalz gehört zu den Befürwortern des neuen Pflegebegriffs, der zum Beispiel Demenzkranken eine bessere Unterstützung bringen soll. Sie haben gefordert, dass bereits im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens mit vorbereitenden Maßnahmen begonnen werden soll. Was haben Sie damit gemeint?Schweitzer: Die Reform des Pflegebegriffs ist das entscheidende pflegepolitische Vorhaben dieser Legislaturperiode. Von ihr hängt ab, wer wie viele Leistungen erhält. Letztlich unterstützen wir damit ein moderneres, teilhabeorientiertes Verständnis von Pflege - beispielsweise sollen auch Einschränkungen bei der Pflege sozialer Kontakte eine Rolle spielen. Aber so ein Gesetz kann nicht unmittelbar umgesetzt werden. In Deutschland gibt es in jedem Jahr 1,5 Millionen Pflegebegutachtungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung.Wenn wir ab voraussichtlich 2017 fünf statt drei Pflegestufen haben, müssen viele Fälle neu und viele Fälle noch einmal begutachtet werden. Das ist bereits absehbar. Deshalb habe ich vorgeschlagen, bereits parallel zum Gesetzgebungsverfahren mit der Vorbereitung der Systemumstellung zu beginnen. Sonst verzögert sich die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs.Mit der Finanzierung dieser Ausweitung der Pflegeversorgung sind Sie einverstanden?Schweitzer: Die Erhöhung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung um zunächst 0,3 Prozent und später noch einmal um 0,2 Prozent reicht hoffentlich aus. Aber Skepsis kann man durchaus haben. Zumal wir versprochen haben, dass es niemandem durch die Neudefinition des Pflegebegriffs schlechter gehen wird. Einigen Versicherten wird es allerdings in jedem Fall besser gehen. Insgesamt bin ich froh über das, was wir da gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsminister hinbekommen haben.Der Pflegeberuf erfordert eine hohe Qualifikation und ist harte Arbeit. Die Bezahlung dafür entspricht dem nicht, es sei denn, man ist Führungskraft. Dennoch zucken alle mit den Schultern bei der Frage, wie das geändert werden kann. Hat die Politik darauf wirklich keinen Einfluss?Schweitzer: Politik hat auf Tarifverhandlungen keinen Einfluss. Es ist aber möglich, Tarifverhandlungen gesetzgeberisch zu flankieren. Das tun wir im aktuellen Pflegestärkungsgesetz. Wir geben den Arbeitgebern in Zukunft nicht mehr die Möglichkeit, die Übernahme von Tarifabschlüssen abzulehnen mit dem Hinweis auf ein wirtschaftliches Risiko. Es wird eindeutig geregelt, dass Tariflöhne über die Pflegevergütung refinanziert werden. Manche Unternehmen haben das mit einer gewissen Zurückhaltung aufgenommen. Aber es gibt natürlich auch Unternehmen, die verstanden haben, dass gute Pflege nur dann stattfindet, wenn die Mitarbeiter nicht nur gut behandelt, sondern auch gut bezahlt werden. Aber die Bezahlung ist beileibe nicht das einzige Problem der Pflege. Es sind auch die Arbeitsbedingungen sowie die große physische und psychische Belastung der Pflegenden, an denen wir ansetzen müssen. Thema Ausbildung: Altenpflege und Gesundheitspflege sind zwei unterschiedliche Ausbildungsgänge. Hinzu kommen neue duale Studiengänge, auch in Trier. Muss das nicht stärker zusammengeführt werden?Schweitzer: Die neuen Studiengänge atmen ja bereits diese Zusammenfassung. Pflege wird komplexer, das muss auch die Ausbildung in der Pflege berücksichtigen. Auf Länderebene sind wir uns einig, dass wir eine gemeinsame Pflegeausbildung - etwa der Alten- und Krankenpflege - brauchen. Die Bundesregierung will in dieser Legislaturperiode ein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringen, das wir positiv begleiten werden. Auch künftig werden wir die gut ausgebildeten, examinierten Pflegekräfte brauchen. Die dualen Studiengänge, die in Rheinland-Pfalz angeboten werden, qualifizieren Pflegende darüber hinaus dafür, Pflegeprozesse zu organisieren und Erkenntnisse der Pflegewissenschaft in die Praxis zu übertragen. Außerdem benötigen wir auch Quereinsteiger in die Pflege, die sich über Teilzeitausbildung qualifizieren. Trotz zusätzlicher Anstrengungen und steigender Ausbildungszahlen werden die Pflegekräfte auch in Rheinland-Pfalz in Zukunft knapp werden. Ist das "Modell Polen" eine Lösung? Schweitzer: Sicher werden Dinge wie Einkaufshilfen in Zukunft stärker aus der Pflegeversicherung bezahlt. Pflege braucht Qualität. Pflege in der Familie braucht Entlastung. Meine Hoffnung ist, dass wir es schaffen, in unserem Land genug Menschen für die Pflege zu interessieren und gut zu bezahlen, dass dieses "Modell Polen" ein Auslaufmodell wird. Wir werden an dieser größten sozialpolitischen Herausforderung scheitern, wenn wir in der Pflege auf Modelle der Schwarzarbeit und der Selbstausnutzung in Familien bauen. Was erwarten Sie von einer Pflegekammer in Rheinland-Pfalz?Schweitzer: Die Pflege braucht eine Stimme. Und zwar eine, die sie sich selbst gibt. Ärzte und Apotheker haben keine Probleme, in der politischen Debatte gehört zu werden. Wer hört die Pflege? Die Pflegekammer hat die Aufgabe, genau diese Stimme zu sein. Es wird nicht die Aufgabe sein, Tarifverhandlungen zu führen oder pflegewissenschaftlich tätig zu sein. Es geht darum, wahrnehmbar zu sein. r.n. volksfreund.de/pflege

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