Kinderärzte verteidigen Verschreibung von Ritalin

Trier · Verschreiben Ärzte Kindern zu leichtfertig Psychopharmaka wie Ritalin? Der rheinland-pfälzische AOK-Chef behauptet das. Die Mediziner verteidigen sich: Sie hielten sich an die Vorschriften.

Trier. Klassische Kinderkrankheiten wie Windpocken, Scharlach oder Röteln hat die Medizin offenbar im Griff - erweitert wird das Krankheitsspektrum aber durch Sprachentwicklungsstörungen oder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Das hält der jüngste Arztreport der Krankenkasse Barmer/GEK fest. Ähnlich wie bei Burnout habe man es bei ADHS mit "schwer eingrenzbaren Krankheitsbildern" zu tun, stellt Barmer-Vizechef Rolf-Ulrich Schlenker fest und fragt: "Bekommen immer die richtigen Kinder eine individuell differenzierte ADHS-Therapie und rechtzeitige Sprachförderung - oder doch diejenigen, deren Eltern diese Versorgung einfordern?" Auch Walter Bockemühl, Chef der rheinland-pfälzischen AOK, glaubt, dass gerade bei ADHS das als Ritalin bekannte Methylphenidat oft nur auf Wunsch der Eltern verordnet wird. Und das in zunehmendem Maße. Zwischen 2004 und 2011 habe sich der Umsatz bei Ritalin in Rheinland-Pfalz von 1,5 Millionen auf 4,5 Millionen Euro erhöht. Bockemühls Vorwurf richtet sich gegen die Ärzte. Die Nebenwirkungen (Bluthochdruck, Wahnvorstellungen) würden von einigen Ärzten fahrlässigerweise nicht berücksichtigt.
Neue Richtlinie


Kinder- und Jugendärzte wehren sich. Die medikamentöse Therapie von ADHS sei über 60 Jahre etabliert und wissenschaftlich durch zahllose Studien abgesichert. "Die Therapie ist hoch- wirksam, ernsthafte unerwünschte Nebenwirkungen sind selten", heißt es in einer Stellungnahme des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Die Störung werde nach den Vorgaben der entsprechenden medizinischen Leitlinie diagnostiziert und behandelt. ADHS sei jedenfalls keine Modeerscheinung.
Seit Dezember 2010 darf Ritalin nur noch von Fachärzten für Verhaltensstörungen von Kindern und Jugendlichen und nicht mehr von Hausärzten verschrieben werden. Demnach soll sich die Diagnose von ADHS nicht allein auf Symptome stützen, sondern auf eine eingehende Untersuchung. Die Landesärztekammer begrüßt diese Änderung: "Die Gabe von Psychopharmaka für Kinder sollte erst der letzte Schritt sein."
Vielerorts gebe es allerdings zu wenig entsprechend qualifizierte Fachärzte, um diese Richtlinie umzusetzen, sagt Alexander Marcus, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Trierer Mutterhaus. Man gehe sogar davon aus, dass viele Kinder ADHS haben und nicht angemessen untersucht und behandelt werden. Marcus glaubt, dass geänderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen Grund für die Zunahme der Methylphenidat-Verordnungen sind. "Die Erwartungen an Kinder und Jugendliche, aber auch an Erwachsene, sind anders geworden. In der Schule, bei der Ausbildung und im Beruf werden durch die modernen Techniken die Anforderungen an jeden Einzelnen immens." Kinder mit ADHS hätten es deutlich schwerer als andere Kinder, sich gegenüber ablenkenden Reizen abzuschotten. "Erstes Ziel in der Behandlung ist es aber, dafür zu sorgen, dass klare Strukturen geschaffen werden", sagt Marcus. Seit Mitte 2011 sei Methylphenidat auch für Erwachsene verordnungsfähig. "Was sicherlich zu einer weiteren Zunahme führen wird, da ADHS häufig nicht einfach mit Vollendung des 18. Lebensjahres aufhört." Die Problematik im Erwachsenenalter sei genauso erheblich wie im Kindes- und Jugendalter.Extra

Methylphenidat, auch bekannt unter dem Markenname Ritalin, ist ein Arzneimittel mit stimulierender Wirkung. Es wird häufig bei ADHS verabreicht. Methyl-phenidat unterliegt seit 1971 betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften. Erfunden wurde es 1994 vom Schweizer Leandro Panizzon, er probierte es an seiner Ehefrau Marguerite (Rita) aus. Dabei soll sich ihre Leistung im Tennisspiel gesteigert haben. Von ihrem Spitznamen Rita leitet sich der bekannte Handelsname Ritalin ab. 1954 wurde es in Deutschland eingeführt. redExtra

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), ist eine angeborene psychische Störung. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 500 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland davon betroffen sind, zumeist Jungen. Mögliche Symptome bei Kindern: Regeln in Familie, Spielgruppe und Klassengemeinschaft werden nicht akzeptiert, Stören im Unterricht, starke Ablenkbarkeit, Wutanfälle, aggressives Verhalten, schlechte Schrift, chaotisches Ordnungsverhalten, Ungeschicklichkeit, häufige Unfälle, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Null-Bock-Mentalität, Leistungsverweigerung, stark vermindertes Selbstwertgefühl; bei Erwachsenen: Unbeständigkeit in beruflichen und sozialen Bindungen, Ängste, Depressionen. red

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