Terrorwarnstufe 4: Wie die Brüsseler derzeit ihren Alltag meistern

Brüssel · Dieser nasskalte Novembertag wäre Grund genug, um auf einen Stadtbummel zu verzichten – die Terrorgefahr bräuchte es gar nicht. Eine Gruppe japanischer Touristen lässt sich von beidem nicht abhalten. Während Soldaten mit Maschinengewehren an ihnen vorbeilaufen, posieren sie vor den Manneken Pis in der Altstadt.

Die pinkelnde Brunnenfigur, die das französische Bombardement 1695 überlebte, wurde später nicht nur zum Symbol des Brüsseler Widerstands, sondern auch ihrer Fähigkeit zur Selbstironie.

Damit ist es in diesen Tagen, da die belgischen Sicherheitskräfte den letzten überlebenden Paris-Attentäter Salah Abdeslam und weitere anschlagsbereite Terroristen in der Stadt vermuten und jagen, nicht weit her. In einem Geschäft neben dem Manneken Pis türmen sich die unverkauften Waffeln. "Sie sehen doch, dass kaum einer kommt", sagt Anais Courtejoie, die Verkäuferin: "Alle haben Angst - ich auch."

Äußerlich ist Belgiens Hauptstadt bemüht, langsam zu ein wenig Normalität zurückzufinden. An diesem Mittwoch, so hat Premier Charles Michel angekündigt, sollen die Schulen wieder öffnen und die Metros wieder fahren. Die Panik, für die ihm zufolge kein Anlass besteht, gibt es auch nicht. Innerlich jedoch kämpfen viele Einwohner mit Entscheidungen, die vor zehn Tagen noch ganz leicht waren.

Das fängt damit an, ob die Tochter, die "terrorfrei" hat und sich langweilt, alleine in den nahen Bastelladen darf, um Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Ein deutscher EU-Beamter berichtet - obwohl "nicht sonderlich ängstlich" - von seinen Vorsichtsmaßnahmen: Wochenendausflug auf's Land statt in die Stadt; per Fahrrad statt mit dem Auto zur Arbeit, um nicht durch den langen Citytunnel fahren zu müssen; lieber zum kleinen Delhaize als zum großen Supermarkt, da die Behörden "Einkaufszentren und Einkaufsstraßen" gefährdet sehen. Und die Verantwortlichen der deutschen Schule im Vorort Wezembeek haben lange mit sich gerungen, ob ihr Weihnachtsmarkt stattfinden kann oder nicht: Ein Zeichen der Zivilcourage setzen oder das Großevent, wie von der Regierung empfohlen, lieber absagen? Letztere Position setzt sich durch.

Viele Gespräche kreisen um die Widersprüche, die das Krisenmanagement der belgischen Regierung hinterlässt. Was nämlich hat es zu bedeuten, dass die maximale Terrorwarnstufe bis nächsten Montag verlängert worden ist und die Kinder trotz der offenbar unveränderten Gefahrenlage wieder in den Unterricht sollen?

Sabine Stadler, ursprünglich aus Donzdorf im Kreis Göppingen und schon viele Jahren in Brüssel, überlegt beispielsweise, ob sie ihre Vierjährige wirklich guten Gewissens wieder in die Vorschulklasse schicken kann, nachdem zwei Tage lang mit Nachbarn und Freunden eine provisorische Betreuung organisiert worden ist, "Die Informationspolitik ist schon sehr belgisch", meint sie und erzählt, dass es an der Schule ihrer Kleinen nun ohne große Diskussion Sicherheitsübungen und Sicherheitsräume geben soll - was auch nicht eben zur Beruhigung beiträgt. Die Verunsicherung spürt sie auch auf der Arbeit. "Kollegen fragen mich, ob sie ins Büro kommen oder von Zuhause arbeiten sollen", erzählt die 35-Jährige, "aber das muss wirklich jeder für sich selbst beantworten."

Völlig verwaist ist das Brüsseler Europaparlament, weil die Abgeordneten diese Woche in Straßburg tagen - in Frankreich, dem Ziel der blutigen Anschlagswelle, wo das Leben aber eher weiterzugehen scheint als in Brüssel. Der Bayer Thomas Bickl, Pressesprecher der deutschen Unionsabgeordneten, könnte also froh sein, gerade im Elsass im Hotel wohnen zu dürfen - wenn da nicht die Lieben zuhause in Brüssel wären. Kein Kindergarten, keine Schule, aber eben auch keine Zerstreuung im Kino oder auf der Eislaufbahn, sondern nur schlechte Nachrichten im Fernsehen und Radio. "Da entsteht schon ein extremes Gefühl der Beklemmung", sagt der Familienvater.

Theoretisch weiß jeder, dass einem Angriff auf die freie Gesellschaft wie in Paris nur mit "mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit" begegnet werden kann, wie der frühere norwegische Ministerpräsident und jetzige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg einmal gesagt hat. In der Praxis aber ist das nicht so einfach. So erzählt die Kellnerin Alix in einer Bar im Ausgehviertel St. Gery, sie schäme sich dafür, ihre Gäste am Wochenende ausgesperrt zu haben, während die Cafés in Paris nach den Anschlägen offen blieben: "Ich könnte heulen. Die Terroristen haben unsere Stadt ohne eine einzige Bombe lahmgelegt." Frank Pouliart ist ihrer Meinung: "Wenn wir alle daheim bleiben, hat der Islamische Staat schon gewonnen."

Der 60-Jährige kommt aus einem Restaurant gegenüber dem Manneken Pis. Der Versicherungsmitarbeiter hat dort zu Mittag gegesssen - wie immer. "Ich muss mich nicht zwingen, keine Angst zu haben", erzählt er, "ich vertraue einfach darauf, dass mich die Soldaten hier schützen." Pouliart spricht von Fatalismus, da er ja genauso gut von einem Auto überfahren werden könne,um dann aber doch einzuräumen, sich in den vergangenen Tagen häufiger umgesehen zu haben als sonst. "Vielleicht müssen wir uns wie die Menschen in Bagdad oder Damaskus an diese Terrorgefahr gewöhnen", sagt er, "für uns ist sie neu."

Es wird dann aber doch noch gelacht, als Pouliart vom Gefrotzel hört, nun müsse das Manneken Pis wohl in Manneken Schiss umbenannt werden. Dass Humor hilft, hofft wohl auch der Besitzer der nah gelegenen Frittenbude, die ihre "Mitraillettes" - Pommes und Fleisch im Baguette - jetzt zum Sonderpreis anbietet. "Mitraillettes" sind Maschinengewehre.

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