„Wir sind kein Zirkus, wir sind eine Haftanstalt“ - Im Gefangenenlager Guantánamo scheint die Zeit stillzustehen

Guantánamo Bay. · Lädt das amerikanische Militär nach Guantánamo ein, bestimmt es allein die Spielregeln. Gespräche mit den Gefangenen sind nicht erlaubt, selbst das Wort Hungerstreik ist tabu. Die Provisorien der Anfangszeit sind Geschichte, die Gefängnisse stehen da wie für die Ewigkeit gebaut.

 Straßenszene vor einem Internierungslager in Guantánamo. Am Gefängniszaun Betonpoller mit dem Schrifzug Honor (Ehre). TV-Foto: Frank Herrmann

Straßenszene vor einem Internierungslager in Guantánamo. Am Gefängniszaun Betonpoller mit dem Schrifzug Honor (Ehre). TV-Foto: Frank Herrmann

 Gefangene im Camp 6. Nur wenn die Gesichter verschwommen oder die Häftlinge von hinten fotografiert sind, lässt der Militärzensor die Bilder passieren. TV-Foto: Frank Herrmann

Gefangene im Camp 6. Nur wenn die Gesichter verschwommen oder die Häftlinge von hinten fotografiert sind, lässt der Militärzensor die Bilder passieren. TV-Foto: Frank Herrmann

 Scott Gray, Kommandeur des Flottenstützpunkts Guantánamo Bay. TV-Foto: Frank Herrmann

Scott Gray, Kommandeur des Flottenstützpunkts Guantánamo Bay. TV-Foto: Frank Herrmann

Ein alter Mann mit grauem Bart, auf dem Kopf eine gehäkelte Mütze, sitzt an einem blank polierten Tisch aus Metall. Ein anderer, dem Anschein nach deutlich jünger, ein wallendes braunes Hemd über der hellen Hose, läuft pausenlos auf und ab, so als wollte er sich fit halten. Der Ältere hat sich drahtlose Kopfhörer über die Ohren gestülpt, auf dem Tisch stehen Wasserflaschen und Styroporbehälter mit Essen. Durch den Sehschlitz, durch den einen die begleitenden Soldaten in den Gemeinschaftsraum schauen lassen, ist das schwache Flimmern eines Fernsehers zu erkennen. Als der Jüngere stehenbleibt, sich mit verschränkten Armen hinter den Älteren stellt und in Richtung Schlitz guckt, drängen die Militärs zum Aufbruch, anfangs höflich, dann sehr resolut. Vielleicht 40 Sekunden hat er gedauert, der Einblick ins Innenleben von Camp 6, dem modernsten der drei Gefängnisse des Lagers Guantánamo, 2006 gebaut nach dem Modell einer Haftanstalt in Michigan. Draußen schlagen karibische Wellen gegen die Steilküste. Ein schmales Asphaltband schlängelt sich hinab zum Windmill Beach, einem grauen Strand unter Königspalmen, von wo der Blick über kakteenbewachsene Hügel auf Windräder geht. In der Nähe kreisen Gänsegeier, am Straßenrand sonnt sich das Prachtexemplar eines Leguans, reglos, als wäre es versteinert.

Es ist eine seltsame Welt voller Widersprüche. Ein Naturparadies, in dem sich Tierfreunde in Uniform rührend um jede Schildkröte kümmern und wo Tauchkurse an den Korallenriffen der Bucht mit ihrem türkisgrünen Wasser hoch im Kurs stehen. Eine Kleinstadt, die eher an Kansas denken lässt als an Kuba: Es gibt einen McDonald's, eine irische Kneipe namens O'Kelly's, eine Filiale von Kentucky Fried Chicken. Und zwischendrin Stacheldraht in Doppelrollen, Wachtürme, Flutlichtstrahler und am Gefängniszaun dicke Betonpoller, auf denen, ein Buchstabe pro Poller, das Wort Honor steht. Ehre.

Es ist 13 Jahre her, dass die ersten Gefangenen nach Guantánamo gebracht wurden. Heute sitzen hier noch 122 hinter Gittern, während es auf dem Höhepunkt 779 waren. 55 könnten sofort entlassen werden, würden sich Länder finden, die sie aufnehmen. Für eine Anklage fehlen Beweise, zudem stufen Weißes Haus, CIA und Pentagon sie nicht mehr als Sicherheitsrisiko ein. Doch so oft Barack Obama wiederholt, dass er das Lager zu schließen gedenkt, weil es Amerikas Werte verletze, vor Ort ist nichts davon zu spüren.

Die Provisorien der Anfangszeit sind Geschichte, die neuen Gefängnisse, Camp 5 und Camp 6, stehen da wie für die Ewigkeit gebaut. Der Bestand der Lagerbibliothek ist auf 21.000 Bücher gewachsen, meist Spenden vom Roten Kreuz. Im Flur hängen Aquarelle, Kostproben dessen, was talentierte Künstler unter den Eingesperrten gemalt haben. Jemenitische Hochhäuser aus Lehm. Der Felsendom in Jerusalem. Ein romantischer Sonnenuntergang überm Meer. Hat einer sein Werk signiert, ist der Name unter einem schwarzen Balken verschwunden. Und fragt man nach Camp 7, dem geheimen Knast, in dem Khalid Scheich Mohammed und vier weitere mutmaßliche Terrorplaner des 11. September 2001 einsitzen, gibt ein Captain, dessen Name nicht gedruckt werden darf, leise lächelnd die immer gleiche Antwort. "Weder bestätigen wir seine Existenz, noch dementieren wir sie."

Kyle Cozad sitzt in einem fensterlosen Konferenzraum vor einem Sternenbanner und sagt, so lange der Präsident nicht entschieden habe, halte er sich an den Befehl, die Internierten "auf sichere, humane, transparente und rechtmäßige Weise" zu bewachen. Der schlaksige Konteradmiral fügt hinzu, dass jeder einzelne der 122 Häftlinge gefährlich sei. Es klingt, als wäre er in einer Zeitblase steckengeblieben, als hätte George W. Bushs "Krieg gegen den Terror" gerade begonnen, obwohl Obama den Begriff aus dem Sprachschatz seiner Regierung verbannte.

Warum dürfen Reporter nicht mit den Gefangenen reden, Sir? Cozad zitiert die Genfer Konvention, die es verbiete, die Lage eines Festgehaltenen auszunutzen, indem man ihn zwinge, mit Journalisten zu reden. Warum sollte ein Journalist eine solche Lage ausnutzen? "Wenn ich jedem von draußen, der nicht wirklich Bescheid wissen muss, solche Gespräche gestatte, dann liefe es genau darauf hinaus. Wir sind kein Zirkus, wir sind eine Haftanstalt." Wie es dann um die Transparenz bestellt sei? Um ausgewogene Berichterstattung? "Ich sitze ja hier, um dieses ausgewogene Bild zu vermitteln", antwortet Cozad und verzieht keine Miene. Im Juli hat der Mann aus Las Vegas seine zwölf Monate an der Spitze der Joint Task Force, der Wachtruppe Guantánamos, hinter sich. Er ist der elfte Kommandant des Lagers.
Ein Aufseher malt in unappetitlichen Einzelheiten aus, was er den Cocktail nennt. Ein Gemisch aus Urin, Fäkalien, Wasser und Sperma. Aufsässige Insassen, konzentriert im Camp 5, schleuderten es ihren Wärtern entgegen, sobald sich eine Tür öffne. An der hellen Schaumstoffdecke im Gang kleben braune Flecken. Der Colonel David Heath, direkt für das Gefängnis zuständig, erzählt, seine Leute trügen Plastikanzüge, um sich vor den Cocktails zu schützen. Die Gegenseite kommt nicht zu Wort.

In der Klinikbaracke stehen Sessel, die an Zahnarztstühle erinnern. Davor sind Fußfesseln fest im Beton verankert. Wer auf einem solchen Sessel landet, wird zwangsernährt, über einen Gummischlauch, weil er sich im Hungerstreik befindet. Hier gibt Smo Auskunft. Smo steht für Senior Medical Officer, leitende Sanitätsoffizierin. Dass Smo brünett ist und relativ klein, darf man schreiben. Wie sie heißt, hingegen nicht. Welche Schmerzen die Schläuche verursachen können, hat der Jemenite Samir Naji al-Hassan Moqbel, seit 2002 hinter Gittern, einmal in einem Brief an die New York Times geschildert. Er werde nie vergessen, wie es beim ersten Mal war. "Als sie den Schlauch hineinstießen, fühlte ich mich, als müsste ich mich übergeben. Ich wollte mich erbrechen, aber ich konnte es nicht." Bei Smo verschwindet die Realität hinter Wolken aus Sprechblasen, als läse sie aus einem Roman Franz Kafkas vor. Hungerstreik? Stattdessen spricht die Ärztin von nichtreligiösem Fasten. Zwangsernährung? Ernährung per Magensonde, korrigiert Smo. Wird sie auf Moqbel angesprochen, erzählt sie von ihrem Patientenstamm zu Hause: Der eine vertrage Magensonden gut, der andere weniger gut. Genauso sei es in Guantánamo.

Richter John Imhof redet sich die Lage tapfer schön. Er organisiert die Militärverfahren gegen die mutmaßlichen Drahtzieher der 9/11-Anschläge. Die Anhörungen ziehen sich hin, der eigentliche Prozess hat noch immer nicht angefangen. Ständig platzen Termine. Wie lange es noch dauert bis zu einem Urteil? Jahrzehnte? "Es geht in angemessenem Tempo voran", zieht sich Imhof aus der Affäre.

Camp X-Ray liegt in einer Senke, nicht weit von dem Tor, das die Flottenbasis von Kuba trennt. Am Maschendraht der Zellenkäfige winden sich Kletterpflanzen empor. Unter einem Dach hat es sich eine Familie von Bananenratten bequem gemacht, Nager fast von der Größe von Bibern. Ein schillernd bunter Specht hämmert gegen das Holz eines verlassenen Turms. Die Tour hat etwas von einer Führung durch einen tropischen Zoo, nur dass Camp X-Ray wirkt, als habe Hollywood die Kulisse eines Weltkriegsfilms der Wildnis überlassen.

Eine blutjunge Soldatin liest Fakten vom Blatt. Dass die Gitterzellen zweieinhalb Meter mal zweieinhalb Meter groß waren. Dass man nachträglich graue Stutzen anbrachte, woraufhin die Gefangenen in den orangefarbenen Overalls ihre Notdurft in Rohre verrichten konnten statt wie anfangs in Eimer. Dass X-Ray nur 92 Tage in Betrieb war. In einer Holzhütte brummte die einzige Klimaanlage des Camps - "Die Wachhunde dort sollten nicht schwitzen".

Vier Fragen an Scott Gray, Kommandeur des Flottenstützpunkts Guantánamo Bay:

Herr Kapitän, warum verzichten die USA nicht auf den Stützpunkt?
Gray: Früher hatten wir auch auf Puerto Rico und in Panama Flottenstützpunkte, sie wurden aufgegeben. Nur dieser hier ist verblieben. Die Karibik, praktisch unser Hinterhof, hat für die USA eine enorme Bedeutung, und Guantánamo ist ihre Logistikdrehscheibe. Es wurde etwa genutzt, um nach dem Erdbeben in Haiti Katastrophenhilfe zu leisten. Es wurde bei Flüchtlingskrisen genutzt. Einmal hatten wir 40.000 kubanische Flüchtlinge zu beherbergen.

Das sozialistische Kuba - daneben ein US-Stützpunkt, das lässt an Kalten Krieg denken. Wie sieht Ihr Krisenmanagement mit den Kubanern aus?
Gray: Es gibt Kommunikationskanäle, derer wir uns täglich bedienen. Zu den Militärs drüben haben wir eine gute Arbeitsbeziehung. Wir versuchen sie nicht zu überraschen - und umgekehrt. Die Kubaner geben uns Bescheid, wenn ein Schiff das Ende der Bucht, ihr Territorium, ansteuert oder von dort kommt. Wir melden ihnen etwa, wenn wir ein Vermessungsschiff erwarten. Nur keine Irritationen! Wenn wir zum Nationalfeiertag am 4. Juli unser Feuerwerk zünden, kündigen wir ihnen das an. Gleiches gilt für Müllverbrennungen. Und für Übungen auf dem Schießplatz, damit sie nicht eines Tages aufwachen, Schüsse hören und nicht wissen, was los ist. Jeden Monat treffe ich mich mit meinem kubanischen Gegenüber, einmal bei ihnen, einmal bei uns.

Gibt es auch so etwas wie ein Rotes Telefon?
Gray: Ja, ein Telefon gibt es. Aber meist schicken wir uns E-Mails.

Havanna verlangt die Rückgabe der Bucht. Was glauben Sie, wie lange sind Sie noch hier?
Gray: In die Verhandlungen bin ich nicht eingeweiht. Ich habe meinen Leuten gesagt: Glaubt nicht, dass ihr schon in zwei Wochen in die nächste kubanische Stadt fahren könnt, um dort Party zu feiern.
Die Fragen stellte Frank Herrmann.

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