Zehn Jahre nach dem Hurrikan Katrina - Eine Reportage

New Orleans · Bisweilen schien es, als müsste er bis zum Sankt-Nimmerleinstag warten. Als hätten sich die launischen Götter der Bürokratie gegen Errol Joseph verschworen, um seine Rückkehr nach New Orleans zu verhindern.

Vier Jahre nach dem Hurrikan gab es einen Hoffnungsschimmer, da konnte er seinen ersten Sieg im Papierkrieg verbuchen. Die Stadt genehmigte den Wiederaufbau seines zerstörten Zweizimmerhauses, mit der Auflage, das neue auf eine Art Podest zu stellen, damit es nicht mehr so leicht überflutet werden kann, falls die Dämme noch einmal brechen. Um ihn für den Verlust des alten zu entschädigen und zugleich das Podest zu finanzieren, zahlte der Staat Louisiana siebzigtausend Dollar, im Rahmen eines Programms, das sich "Road Home" nannte. Joseph packte an.

Ein Berufsleben lang hat er Holzfußböden verlegt, darüber hinaus kann er alles, was einer können muss, um ein Haus zu bauen. Kaum waren die Formalitäten erledigt, so glaubte er jedenfalls, begann er den Rohbau hochzuziehen, keine Ziegel, kein Beton, nur ein Holzgerippe, wie es in Amerika üblich ist. Er kaufte Gipskartonplatten, Fliesen, Rohre und eine Badewanne und lagerte alles in einem Schuppen. Dann holte er Inspektoren, um sicherzugehen, dass alles seine Richtigkeit hatte. Die stellten ein imaginäres Stoppschild auf, ohne dass Joseph sagen könnte, woran es lag, denn konkret zu beanstanden hatten sie nichts. Er solle auf ein Schreiben vom Amt warten, erst dann dürfe er weitermachen. Monate vergingen, nichts geschah. Im feuchten Schuppen verrotteten die Gipsplatten. Die Stadt drohte mit Abriss, weil der Rohbau unvollendet blieb. Die eine Behörde wusste nicht, was die andere tat. Formulare kamen wegen Kleinigkeiten zurück, Joseph verhedderte sich in den Fallstricken der Bürokratie - bis ihn ein Beamter wissen ließ, dass alles seine Ordnung habe.

Da waren seit dem Hurrikan sechs Jahre vergangen, nur sollte Joseph diesmal 35 000 Dollar zurückzahlen: "Road Home" habe ihm irrtümlich zu viel überwiesen. Das Geld hatte er nicht, viel war draufgegangen für die teure, nach dem Desaster sprunghaft gestiegene Miete, wie sie die Katrina-Vertriebenen angesichts knappen Wohnraums berappen mussten. Sieben Jahre nach dem Hurrikan meldete sich der Staat Louisiana, Joseph brauchte nun doch nichts zurückzuzahlen, man wusste ja, dass es drunter und drüber gegangen war bei "Road Home", der "Straße nach Hause", die im Volksmund bald nur noch "Straße ins Nichts" hieß.

Irgendwann erschien Laura Paul auf der Bildfläche, die kanadische Chefin von lowernine.org, eine Spendeninitiative, die bisher 75 Häuser im Lower Ninth hochzuziehen half. Die Programmiererin, 2005 entlassen von ihrer Start-up-Firma in Montreal, war in den Süden gefahren, um auf neue Gedanken zu kommen. Von Florida ging es nach Westen, in New Orleans blieb sie hängen, 14 Monate lang verteilte sie Essen, Decken, Zahnbürsten und Seife. Und Eimer mit Bürsten, damit die Heimkehrenden den Schimmel wegschrubben konnten. Danach übernahm sie die Leitung von lowernine.org, von einem Schiffskonstrukteur aus Maine, der ebenso spontan wie sie in New Orleans geholfen hatte. Sie räumte Hürden aus dem Weg, an denen Joseph gestrauchelt war. "Ich war die weiße Lady", sagt sie sarkastisch. "Mich nahmen sie ernst, Errol nicht. Es soll mir keiner erzählen, dass das mit der Farbe der Haut nichts zu tun hatte."

Allmählich ist ein Ende abzusehen, an der Forstall Street wird gerade das Bad gefliest, sieben Freiwillige legen Hand an. Esther Joseph lässt jeden ein paar Gedanken auf Pappkarton schreiben, es sind Zeilen auf Englisch, Deutsch, Französisch, Russisch, während der Fachmann Errol die "Kids" anleitet wie ein Meister seine Lehrlinge. Er selber ist zu krank, als dass er noch stundenlang auf Baustellen arbeiten könnte. Zehn Jahre Stress haben sein Herz so geschwächt, dass er im April operiert werden musste. Zieht er Bilanz, klingt es nach einer Mischung aus Bitterkeit und Stolz. "Unser Viertel bekam einen Stempel, auf dem Stempel stand: Versager. Sie wollten uns hier nicht wiederhaben. Aber nicht mit uns."

Der alte Lower Ninth, will der 64-Jährige damit sagen, störte nur bei der Neuerfindung von New Orleans. Fast alle, die dort wohnten, waren Afroamerikaner. Ihre schmalen "Shotgun Shacks", so genannt, weil eine Gewehrkugel von vorn bis hinten durch alle Zimmer fliegen könnte, wurden über Generationen vererbt. Bescheidener Wohlstand, eine ruhige Kleine-Leute-Siedlung fernab vom French Quarter, dem berühmten Vergnügungsviertel. Der Jazz hat tiefe Wurzeln im Lower Ninth, der Pianist Fats Domino stammte von hier, der Trompeter Kermit Ruffins fing hier an. Laura Paul spricht von der Seele der Stadt. Von einer verwundeten Seele.

19 000 Menschen lebten einst in dem Viertel, das unter dem Meeresspiegel liegt und von einem Kanal, dem Industrial Canal, vom Stadtkern getrennt wird. Nach Katrina markierten es die Planer auf Landkarten mit einem grünen Punkt, was bedeutete, dass es nicht wieder besiedelt werden sollte. Die Blaupausen von damals sind Makulatur, etwa fünftausend Bewohner zurückgekehrt. Doch vergleicht man es mit dem Rest der Stadt, ist es ein Comeback im Schneckentempo. New Orleans zählte vor Katrina 452 000 Einwohner, 2014 waren es 384 000. Der Tourismus boomt, als hätte es nie ein Desaster gegeben. New Orleans, "The Big Easy” mit lässigem Lebensgefühl, großartiger Straßenmusik und französischen Architekturperlen, gehört zu den wenigen unverwechselbaren Städten der USA, in einer Liga mit New York, Boston, San Francisco. Der urbane Charme zieht die Jungen an, die meisten weiß, viele Hightech-Bastler, sodass Optimisten bereits vom Silicon Bayou sprechen.

Kein Wunder, dass sie sich im Lower Ninth fühlen, als wären sie abgehängt, unerwünscht. Die Optik des Viertels lässt an eine Wiederaufbau-Lotterie denken: hier ein renoviertes Gebäude, daneben eine verrammelte Baracke, daneben ein verlassenes Grundstück, auf dem das Unkraut zwei Meter hoch wuchert. Überall Treppenstufen, Treppenreste im Urwald. Es sind die Denkmäler der Katastrophe. Seit April gibt es einen kleinen Lebensmittelladen, den einzigen weit und breit. Der Armeeveteran Burnell Cotlon hat ihn aufgemacht, nachdem er mit einem Friseursalon angefangen hatte. Der ersten wiedereröffneten Schule folgt demnächst die zweite. Es geht in Trippelschritten voran. Mittendrin wirken die hundert spitzzackigen Ökohäuser, für deren Bau Brad Pitt in Hollywood die Spendentrommel rührte, wie ein futuristischer Traum.

Robert Green wohnt in so einem Traum, an der Tennessee Street, gleich neben dem Industriekanal. Draußen hat er auf eine Tafel geschrieben, welche Tragödie sich für seine Familie mit dem Sturm verbindet. Zwei Namen, das gleiche Todesdatum. Joyce Hilda Green, 25 Jahre Air Force, 8.11.1931 - 29.8.2005. Shanai Green, 11.4.2002 - 29.8.2005. Green verlor sowohl seine Mutter als auch eine Enkelin in den Fluten. Dabei hatte er nicht, wie andere es taten, bis zum letzten Moment ausgeharrt, darauf hoffend, dass es nicht so schlimm kommen würde. Green fuhr rechtzeitig los, mit der Mutter, einem geistig behinderten Cousin und drei Enkeltöchtern im Auto. Nach wenigen Kilometern erlitt seine kranke Mutter eine Panikattacke, sie mussten umkehren und steuerten den Superdome an, jene Arena, die als Flüchtlingslager mit skandalösen Zuständen für Schlagzeilen sorgte. Der Andrang war zu groß, die Mutter konnte nicht ewig in der Hitze warten, also fuhren sie nach Hause. Am nächsten Morgen, es war der 29. August 2005, wurde der Lower Ninth überschwemmt.

Die Strömung war so stark, dass sie den Shotgun Shack an der Tennessee Street aus dem Betonfundament riss und wegspülte, bis er Halt in der Krone einer mächtigen Eiche fand. Green schlug ein Loch ins Dach, bugsierte die dreijährige Shanai hinauf und bückte sich, um die vierjährige Shaniya am Arm zu packen. Als er sie oben hatte, war Shanai verschwunden. Greens Mutter starb am selben Tag an Erschöpfung. Nachbarn kamen mit Rettungsbooten, Platz gab es nur für die Lebenden, der tote Körper musste auf dem Dach bleiben. Sobald er festen Boden erreicht hatte, bat Green die Soldaten der Nationalgarde, ihn zu bergen. Am 29. Dezember, vier Monate nach Katrina, holte er die verweste Leiche seiner Mutter selber vom Dach seines Hauses.

Errol Joseph konnte seine Familie damals rechtzeitig in Sicherheit bringen, Esther und die zwei von fünf Kindern, die damals noch bei ihnen wohnten. Die beiden Jüngsten haben inzwischen Arbeit in Kalifornien, die Eltern könnten zu ihnen ziehen, aber das wollen sie nicht. "Es ist unser Zuhause, Home Sweet Home", sagt Joseph. "Ich weiß nicht, wie ich es sonst erklären soll."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort