"Der Verfassungsschutz hat absolut versagt" - Extremismusforscher Eckhart Jesse im TV-Interview

Trier · Rechtlich möglich, aber politisch sinnlos: So schätzt der frühere Trierer Politikwissenschaftler Eckhart Jesse ein Verbot der NPD ein. Jesse ist Extremismusforscher und lehrt in Chemnitz. Mit ihm sprach TV-Redakteur Bernd Wientjes.

Hat Sie das Ausmaß der rechtsextremen Gewalt überrascht?
Jesse: Völlig. Ich bin perplex. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass drei Leute es fertigbringen, den Verfassungsschutz und die Polizei über ein Jahrzehnt an der Nase herumzuführen.
Wie erklären Sie sich das?
Jesse: Es ist ein absolutes Versagen des Verfassungsschutzes in Thüringen. Offenbar haben die Täter mit dem Verfassungsschutz kooperiert, waren zeitweise eine Art V-Leute, ohne dass die Behörde mitbekommen hat, was diese Personen tatsächlich geplant und gemacht haben.
Was ist das Besondere an diesen Tätern?
Jesse: Das Paradoxe ist: Sonst brüsten sich rechte Terroristen mit ihren Taten und prahlen damit. Hier ist es genau umgekehrt: Es werden die schlimmsten Taten begangen, und es wird nicht bekannt, dass sie von Rechtsextremisten kommen. Sie haben zehn Menschen umgebracht und sind nicht in Erscheinung getreten.
Wurde die rechte Gefahr in Deutschland bislang unterschätzt?
Jesse: Es wurde immer gesagt: Es gibt keine rechtsterroristischen Strukturen. Dieses Ausmaß konnte man aber nicht ahnen.

Hat vielleicht auch Ihre Profession, die Wissenschaft, versagt?
Jesse: Ich räume ein, ich habe mit so was nicht gerechnet. Es gab von mir und Kollegen nur allgemeine Warnungen vor dem Rechtsextremismus. Ich habe gesagt, man sollte die Rechtsextremisten nicht größer machen, als sie sind. Aber die Wissenschaft hat deshalb nicht versagt und keinesfalls die Gefahr verharmlost.
Woran macht man Extremismus fest?
Jesse: Extremisten lehnen den demokratischen Verfassungsstaat ab. Bei Rechtsextremen kommen noch rassistische und nationalistische Elemente hinzu.

Welche Rolle spielt die NPD? Sind die Taten politisch motiviert?
Jesse: Nach allem, was man weiß, hat die NPD nichts damit zu tun. Aber die Täter bezeichneten sich ja als Neonazis. Den genauen Motiven muss man noch nachgehen, und man muss auch fragen, wer hinter ihnen gestanden hat. Ich glaube aber nicht, dass es eine Art braune Armee-Fraktion gibt.
Wie stehen Sie zu einem NPD-Verbot?
Jesse: Die Voraussetzungen dafür sind erfüllt. Rechtlich ist es möglich, aber politisch sinnlos. Ein Verbot wäre sogar kontraproduktiv. Denn dadurch würden solche Taten nicht ausgeschlossen, sondern eher noch gefördert. Leute, die bei der NPD eingebunden wären, würden dann vermutlich erst recht militante Wege einschlagen. Eine offene Gesellschaft muss mit solchen Leuten umgehen.
Extra

Eckhart Jesse (63, Foto: privat) ist Politikprofessor an der Technischen Universität Chemnitz. Sein Schwerpunkt ist Extremismusforschung. Bis 1993 lehrte er an der Universität Trier. wie

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