Arger Wüterich oder hochbegabter Kranker?

BITBURG. Wahrscheinlich gehören sie zu den bekanntesten Personen der Menschheitsgeschichte, ebenso wahrscheinlich wurden sie auch am häufigsten verkannt, mit Sicherheit aber wurden sie spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts durch den schreibenden Frankfurter Nervenarzt Dr. Heinrich Hoffmann zu "Volkshelden" mit negativen Eigenschaften gemacht.

Zappel-Philipp, Suppenkasper, Hans-Guck-in-die-Luft, Paulinchen und Friederich. Im "Struwwelpeter" beschrieb Hoffmann auffällige Verhaltensweisen dieser Helden und gab ihnen Gestalt und Namen. Bemerkenswert war, dass Hoffmann mit scharfem Blick Symptome darstellte, ohne um die dahinter steckende Krankheit zu wissen, die die von ihr Geschlagenen zu eben den "armen Helden" gemacht hatte. Heute sind diese Symptome einer Krankheit zugeordnet die ADS oder ADHS genannt wird. Womöglich war Hoffmann selbst ein davon Geplagter und hatte daraus die Sensibilität für seine überaus genaue Wahrnehmung gewonnen. Das vorrangige Problem der Menschen, die das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) haben, ist die Aufmerksamkeit. Oft werden in diesem Zusammenhang heute die Figuren aus dem Struwwelpeter benannt. Die so genannte Hyperaktivität, die gesteigerte motorische Unruhe, gehört nicht in jedem Fall zum Krankheitsbild. Aufräumen fast unmöglich

Doch es gibt sie auch und sie fällt schneller ins Auge. Jene Kinder, bei denen zum Problem der Aufmerksamkeit noch die Hyperaktivität hinzukommt, fallen durch ihre Impulsivität und, wie der wilde Friederich, darüber hinaus noch durch eine Störung des Sozialverhaltens auf. Dies besonders dann, wenn sie lange unerkannt blieb. Lange Leidenswege von ADS-Kindern und ihren Familien sind Folge nicht rechtzeitigen Erkennens. Betroffene Eltern wissen von abenteuerlichsten Hypothesen zu berichten, die sie von Beratern in Erziehungs- und Familienberatungsstätten zu hören bekommen hatten, bevor schließlich die zutreffende Diagnose ADS oder ADHS gestellt wurde. Besonders Kinder mit ADHS ohne Hyperaktivität werden selten diagnostiziert, weil sie weniger störend auffallen, als Kinder, die auch das Merkmal der Hyperaktivität aufweisen. Sie bleiben häufig ausgeschlossen, werden Schulversager, entwickeln ein schlechtes Selbstvertrauen und neigen zu Depressionen. Mädchen sind von dieser Ausprägung häufiger betroffen als Jungen, während es insgesamt mehr Jungen mit Hyperaktivität gibt als Mädchen. Das Problem beginnt oft schon im Baby- und Kleinkindalter. Unruhig sind sie manchmal bereits im Mutterleib, danach Schrei- und oder Speikinder. Hohe Experimentier- und Erkundungsfreude bei geringem Gefahrenbewusstsein führen häufig zu Unfällen. Im Kindergarten- und Vorschulalter wird erkennbar, dass sie schwer in Gruppen integrierbar sind. Sie stehen gern im Mittelpunkt, sind immer auf Achse und können nur schwer bei der Sache bleiben. Entsprechend sieht ihr Zimmer aus! Aufräumen können sie aber trotz gutem Willen nicht: Kaum haben sie begonnen, kommt irgendetwas in ihre Hände, das sie ablenkt, und das Zimmer sieht nach Stunden nicht besser aus. Außenseiter oder Klassenkasper

Im Schulalter geraten sie oft in eine Außenseiterposition, sind Störenfried oder Klassenkasper. Die Disziplin stellt für sie eine unlösbare Aufgabe dar. Gedanken, die ihnen durch den Kopf schießen, müssen sie sofort in die Klasse rufen und können nicht warten, bis der Lehrer sie drannimmt, nachdem sie sich gemeldet haben. Ihr Gerechtigkeitssinn und ihre unberechenbare Impulsivität ist oft Anlass oder Verstärker bei Auseinandersetzungen. Hausaufgaben sind zudem ein Drama. Trotz häufig überdurchschnittlicher Intelligenz haben sie Schulprobleme. Nicht selten treten in Verbindung mit ADS Lese-Rechtschreib-Schwäche, Dyskalkulie, visuelle, auditive oder taktile Wahrnehmungsstörungen auf. Im Jugendalter lässt die motorische Unruhe meist nach, stärker als andere sind Betroffene allerdings stimmungslabil: Von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt wechseln innerhalb kürzester Zeit. Oft werden sie viel zu früh Eltern. Suchtgefahren können sie schlecht widerstehen, wenngleich sie nicht zu harten Drogen neigen, Alkohol allerdings ist die größte Gefahr für sie. Selbst als Erwachsene sind sie oft noch immer erkennbar betroffen. Gestörte Selbstorganisation, impulsiver Handlungsstil, Selbstwertprobleme, nicht zuhören können, hohes Aktionsniveau, Suche nach Sensationen und in ungünstigeren Fällen Suchtprobleme und Kleinkriminalität können Ausprägungen im Erwachsenenalter sein. So ist der "arge Wüterich" unter Umständen nur ein von ADHS geschlagener, hochbegabter Mensch, der, bei angemessener Behandlung und durch Akzeptanz seiner Besonderheit in Wirklichkeit das Potenzial zu weit überdurchschnittlichen Leistungen hat, wie manche berühmte ADSler. Arlene Zorn, Klasse 8d, des St.-Willibrord-Gymnasiums

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