"Das Herz unseres Dorfs schlägt australisch"

Oldenburg/Villers-Bretonneux · Einst Schauplatz blutiger Schlachten, heute Ort bleibender Erinnerung: In dem nordfranzösischen Städtchen Villers-Bretonneux halten die Menschen das Gedenken an die Opfer des Ersten Weltkriegs aufrecht. Besonders dankbar bleiben sie für den Einsatz australischer Soldaten.

 Das Städtchen Villers-Bretonneux hält die Erinnerung an den Einsatz australischer Soldaten im Ersten Weltkrieg lebendig.

Das Städtchen Villers-Bretonneux hält die Erinnerung an den Einsatz australischer Soldaten im Ersten Weltkrieg lebendig.

Foto: Sylvie Stephan (4), Alastair Miller (1)

Oldenburg/Villers-Bretonneux. Von seinem Vater bleiben Rolf Grotelüschen ein paar vergilbte Dokumente und Erinnerungen: "Ein lustiger, geselliger Mann" sei er gewesen, der August Grotelüschen, sagt der 85-Jährige - trotz der Gräuel, die er als Soldat im Ersten Weltkrieg erlebt haben muss. Die Überbleibsel hat der Sohn fein säuberlich in seinem Haus in Oldenburg aufbewahrt: Fotos, die den damals gerade erst 18-Jährigen in grauer Uniform zeigen; den dunkelblauen Militärpass mit den Schlachten, die er austragen musste; und Feldpostkarten - abgeschickt aus einer der blutigsten Gegenden des Ersten Weltkriegs: die Somme in Nordfrankreich. Die liebliche Landschaft nördlich von Paris und Reims, wo heute Kartoffeln, Rüben und Raps wachsen, war einst Schauplatz der verlustreichsten Gefechte der "Grande Guerre": Die Schlachten am Fluss Somme, die mit Unterbrechungen von 1916 bis 1918 tobten, forderten allein in den ersten viereinhalb Monaten 1,2 Millionen Tote, bei nur minimalen Geländegewinnen an der Westfront. Seit der deutsche Feldzug auf Paris im Herbst 1914 steckengeblieben war, zog sich die Front auf 750 Kilometern vom Ärmelkanal bis zur Schweizer Grenze - eine Kette von schlammgefüllten Schützengräben, in die sich die Deutschen eingebuddelt und ihre Stellungen zu regelrechten Festungen ausgebaut hatten.
Auch August Grotelüschen habe "viel Zeit in den Schützengräben der Somme verbracht", erinnert sich der Sohn und liest aus dem Militärpass vor: "Ab 20. Februar 1918: Maschinengewehrkompagnie des Infanterieregiments; 25. März bis 22. April Kämpfe am Fluss Avre; 24. bis 26. April Schlacht von Villers-Bretonneux." Das Städtchen unweit von Amiens ist einer dieser zahlreichen Orte der Gegend, die erbittert umkämpft, erobert und wieder aufgegeben wurden. In die Kriegsgeschichte ging es während der "Frühjahrsoffensive" 1918 ein, als das deutsche Heer nach dem Sieg über Russland versuchte, die britischen und französischen Linien an der Somme zu durchbrechen. "Näheres hat der Vater nie erzählt", sagt Rolf Grotelüschen. Doch er ahnt, dass es Erlebnisse gewesen sein müssen, für die es keine Worte gibt.
Aus den Geschichtsbüchern weiß man, dass am Ende eben jenes 24. April 1918 das in Ruinen liegende Villers-Bretonneux nach einem Tag heftiger Gefechte und den ersten Sturmpanzerwagen-Duellen des Kriegs wieder in deutscher Hand lag.
Für Grotelüschen und seine Kameraden rückte das strategisch wichtige Amiens damit in Sichtweite. Von dort aus wäre der Weg nach Paris nicht mehr weit gewesen. Doch just an diesem Abend - der Senfgasgeruch des Kampftages muss noch in der Luft gelegen haben - bereitete sich die Gegenseite darauf vor, die Offensive zu stoppen: australische Truppen, die von den Briten zur Verstärkung herangezogen worden waren - darunter der damals 32-jährige Charles Stokes. In der Dunkelheit drangen die Australier in die Wälder um Villers-Bretonneux ein. Trotz heftigen deutschen Maschinengewehrfeuers begannen sie, eine Gewehrstellung nach der anderen zu zerstören und machten so den Weg für den alliierten Vormarsch frei. Von der "vielleicht größten individuellen Heldentat des Kriegs" sprach später ein britischer General. Am 25. April war Villers-Bretonneux zurück in der Hand der Alliierten. Die Frühjahrsoffensive war gescheitert und damit eine entscheidende Weiche für die baldige Wende im Ersten Weltkrieg gestellt: Am 8. August, dem "schwarzen Tag des deutschen Heeres" (Ludendorff), zwangen die Entente-Einheiten die deutschen Truppen bei Amiens zum Rückzug auf breiter Front. Die Niederlage Deutschlands und die Befreiung Frankreichs war damit nur noch eine Frage der Zeit.
."In Frankreich ist das Trauma des Ersten Weltkriegs heute noch allgegenwärtig, vor allem in der Somme", sagt Yves Taté. Der grauhaarige Hobbyhistoriker ist in Villers-Bretonneux aufgewachsen. Auch sein Großvater hat im Krieg gekämpft, auf französischer Seite. "Noch 100 Jahre später werden in den Böden tonnenweise Kriegsschrott, Gebeine und Überreste ehemaliger Soldaten gefunden", sagt Taté. Zwar ist inzwischen Gras drüber gewachsen, doch vielerorts lassen sanfte Dünungen die Schützengräben erahnen, in denen sich die Soldaten einst gegenüberlagen. Unzählige Soldatenfriedhöfe durchziehen die geschundene Landschaft und locken jährlich Hunderttausende Besucher an.Dank an jeder Straßenecke


In Villers-Bretonneux gilt der Dank vor allem den Australiern - sichtbar an jeder Straßenecke: Vor dem Rathaus weht die australische Flagge, Känguru-Figuren zieren den Vorgarten. Straßen sind nach australischen Städten benannt, Le Melbourne heißt das einzige Café am Platz. Ein Museum erinnert an die Geschichte des Australian Army Corps im Weltkrieg, im Erdgeschoss befindet sich die Ecole de Victoria. "Do not forget Australia!" prangt in riesenhaften grünen Lettern im Schulhof, während in den Klassenzimmern die kleinen Franzosen wie selbstverständlich das australische Volkslied "Waltzing Matilda" anstimmen. "Das Herz von Villers-Bretonneux schlägt australisch", sagt Bürgermeister Patrick Simon. "Wir haben den Australiern viel zu verdanken. Ohne sie wären wir heute nicht hier." Der gemütliche Mann mit der blau-rot-weißen Schärpe erinnert daran, dass die Australier mit die höchsten Verluste zu beklagen hatten: Allein an der Westfront fielen 46 000 von 60 000 Soldaten, bei einer Bevölkerung von damals nur 4,5 Millionen Menschen. Der hohe Blutzoll ihrer Verwandten zieht heute alljährlich Tausende Australier ins ferne Frankreich. Am australischen Nationaldenkmal von Villers-Bretonneux, dessen weißer Turm die früheren Schlachtfelder und umliegenden Gräber überragt, strömen Australier, aber auch Briten und Franzosen, schon im Morgengrauen zur Gedenkveranstaltung zusammen. Josie Dawson aus Brisbane hat 25 Flugstunden zurückgelegt, um dabei zu sein. "Mein Großonkel Gordon Henry Iles", erklärt sie und deutet auf den mitgebrachten Kranz mit dem Schwarz-Weiß-Bild in der Mitte. "Gerade mal 23 Jahre alt ist er geworden, er ist hier in der Gegend gestorben. Ich wollte unbedingt sehen, wo er seine letzten Tage verbracht hat", sagt Josie und kämpft mit den Tränen.Auszeichnung für Mut


Anwesend ist erstmals auch Naomi Stokes - die Urgroßenkelin von Charles Stokes, der nach seiner Rückkehr in die Heimat für seinen Mut ausgezeichnet wurde. "Er hat nicht viel über den Krieg gesprochen. Nur seine Farm südlich von Perth, die hat er ‚Villers‘ getauft", erzählt die 48-Jährige. Bewegt verfolgt die blonde Frau die offizielle Zeremonie, in der viel von Stokes die Rede sein wird, aber auch von all denen, die weniger Glück hatten und seitdem fernab der Heimat auf französischem Boden ruhen.
Die Rede des französischen Veteranenministers unterstreicht das enge Band zwischen Frankreich und Australien durch die "geteilte Erinnerung". Es ist, als lebte über den Gräbern plötzlich die Geschichte wieder auf, die hier zwischen Frankreich und Commonwealth-Staaten einerseits und den Deutschen andererseits geschrieben wurde - bevor aus den einstigen Feinden Freunde wurden. Auch ein Vertreter der Bundesrepublik ist da. Oberstleutnant Henning Weeke legt einen Kranz mit schwarz-rot-goldener Schleife nieder. Sein Großvater, erzählt er nach der Zeremonie, habe ebenfalls im Ersten Weltkrieg in der Somme gekämpft. Auf der anderen Seite, versteht sich - wie einst auch August Grotelüschen aus Oldenburg. Er hat übrigens überlebt und bekam im April 1919 seinen Entlassungsschein. Heute sagt sein Sohn Rolf mit Blick auf die Weltlage besorgt: "Ausgerechnet im Gedenkjahr geht es nun mit der Ukraine und Russland los. Ich wünschte, die Menschen lernten aus diesen Dingen!"

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