Fitness fürs Gehirn

TRIER/NAURATH. Kinestetik oder Brain Gym (Gehirngymnastik) bezeichnet eine Art gymnastischer Übungen, die mit Überkreuzbewegungen die Zusammenarbeit beider Gehirnhälften fördern wollen. Dadurch sollen Energieblockaden gelöst und, vor allem bei Kindern mit Lern- oder Konzentrationsstörungen, positive Effekte erzielt werden.

Sie atmen ruhig ein, halten sich abwechselnd je ein Nasenloch zu, heben die Arme in die Luft und ziehen sie auseinander, klopfen sich auf Lunge und Brust und reiben bestimmte, für die Konzentration wichtigen Punkte an Schläfen, Stirn, Nase und Bauchnabel.Energie muss fließen können

Was acht Schülerinnen und Schüler von Grundschule bis Gymnasium zusammen mit ihren Müttern hier praktizieren, sind Entspannungs- und Energie-Aufbau-Übungen am Anfang einer Kinestetik-Stunde. Trainerin Irmgard Schäfer hat, wie schon in den vorangegangenen Treffen, die Gruppe angewiesen, vorher viel Wasser zu trinken: "Energie braucht einen Leiter, damit sie fließen kann". Was fließen soll, sind mikroelektrische Impulse vom Gehirn über die Nervenbahnen in die Muskulatur. "Dabei lösen sich Verkrampfungen und Energieblockaden im Körper, und er wird mit Geist und Seele in Einklang gebracht. Das führt zu Ausgeglichenheit und hilft, die Fähigkeit des Gehirns in seiner Ganzheit zu aktivieren und zu nutzen", sagt Irmgard Schäfer. Geistiger Vater der Kinesiologie ist der Chiropraktiker George Godheart, der davon ausging, psychischer und körperlicher Stress führe zur Schwächung von Muskeln und der damit in Verbindung stehenden Organe. Er verband diese Vorstellung mit der aus der chinesischen Medizin, Blockierung von Lebensenergie sei Ursache von Krankheiten. Bei Bewegungstherapien zur Restimulierung der Muskulatur unfallgeschädigter Kinder entdeckte er, dass sich deren Konzentration und Lernfähigkeit steigerte. Die daraus folgende Annahme, Muskelsysteme des Körpers stünden in Beziehung zum Lernen mit beiden Gehirnhälften, ohne deren Zusammenarbeit komplexe Denkleistungen wie Lesen und Schreiben nicht möglich seien, bewegte den amerikanischen Arzt Paul E. Dennison zur Forschung mit lernbehinderten Kindern. Daraus ging schließlich die Educational-Kinesiologie (Edu-Kinestetik) hervor. Bestimmte Bewegungsabläufe sollen demnach beide Gehirnhälften zusammen aktivieren. So die Überkreuz-Übungen, die in Irmgard Schäfers Gruppe für lebhafte Bewegung sorgen. Rechter Arm und linkes Bein, linker Arm und rechtes Bein - jede Körperseite wird von der Gehirnhälfte der anderen Seite gesteuert. Dann wird mit den Händen eine liegende Acht in die Luft geschrieben, der beide Augen gleichmäßig folgen sollen. "Das ist anfangs schwer, aber es ist Trainingssache wie bei Sport auch. Wenn man die Übung beherrscht, kann man sie gezielt zum Lernen einsetzen", sagt Irmgard Schäfer. Die dreizehnjährige Susanne beschreibt das so: "Wenn ich Vokabeln lernen will, schreibe ich sie in die liegende Acht, dann kann ich sie mir besser merken." Doch der Nutzen der Methode, von der Irmgard Schäfer und ihre Gruppenteilnehmer überzeugt sind, ist umstritten. Der Trierer Kinderarzt Johannes Storto formuliert zwar vorsichtig: "In kompetenten Händen kann man damit viel erreichen", doch er selbst arbeitet stattdessen lieber mit Eurythmie. Kinderärztin Uta Brenner weist darauf hin, dass Kinestetik nicht im Leistungskatalog der Krankenkassen geführt wird. Sigrid Hansen, Pressesprecherin der Techniker Krankenkasse in Trier, begründet: "Es gibt keine fundierten wissenschaftlichen Studien, die den Nutzen untermauern." Tatsächlich kommt auch eine Arbeit der Universität Koblenz aus dem Jahr 1999 zu dem Schluss, dass keine der Studien, die einen positiven Effekt der Kinestetik bei Lernleistungen belegen, aussagekräftig ist. Entweder gab es methodische Fehler, zu wenig Probanden, oder keine Kontrollgruppen. "Aber die Studien müssen hohe Ansprüche erfüllen, zumal dann, wenn es schon sinnvolle Alternativen gibt wie zum Beispiel Logopädie oder Psychotherapie", sagt Sigrid Hansen. Kein absoluter Therapie-Anspruch

Verteufeln wolle man nichts, sicherlich schade die Methode auch nicht. "Die einzige Gefahr wäre, dass jemand konventionelle Behandlung zugunsten von Kinestetik unterließe." Aber den absoluten Anspruch einer Therapie hat Irmgard Schäfer auch gar nicht: "Ich möchte nur einen Schlüssel zu leichterem Lernen, zu positiverer Lebenseinstellung und zu mehr Lebensfreude anbieten."

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