Gemeinschaft am 11. September

Mit einem Unheil verkündenden Ruckeln bleibt der Aufzug zwi-schen den Stockwerken stecken. Der Mann zu meiner Rechten verdreht die Augen, der zu meiner Linken blickt auf die Uhr. Er wird seinen Termin nicht einhalten können.

Oder will er die Stunde festhalten? Es ist der 11. September. Wir alle im geschlossenen Raum vermeiden es, uns in die Augen zu schauen. Die erzwungene Enge ist peinlich. Die Nervosität der Mutter neben mir überträgt sich auf ihr Kind. Es fängt an zu schreien. Im engen Raum be-ginnt es nach Schweiß zu rie-chen. Eben noch sogen die Aufzüge die Menschenmengen auf oder erbra-chen sie in die Flure. Jetzt ist es so, als ob die Welt den Atem anhielte. Ich denke an den Urlaub in Lappland, wo Menschen sich über Nähe freuen und jeden Fremden mit Gastfreundschaft empfangen. Das Wandtelefon reißt mich aus meinen Betrachtungen. Ein Über-wachungssystem hat den Haus-meister verständigt. Der Mann, der nach Schweiß riecht, hat den Hörer abgenommen und nun berichtet er, ein Mechaniker sei unterwegs. Blickkontakt entsteht. Ein Ge-spräch über die Merkwürdigkeit der Ereignisse. Jeder weiß noch, was er am 11. September 2001 getan hat. Wir staunen, denn anderes, was vor fünf Jahren, fünf Monaten, fünf Tagen geschehen ist, haben wir vergessen. Alle aber wissen noch, was sie am denkwürdigen Tag vor fünf Jahren taten. Jeder im Lift vertraut seine Geschichte den anderen an. Das Baby allein schweigt. Auch als der Liftkorb sich wieder in Bewegung setzt. Es ist eingeschlafen. Die erzwungene Gemeinschaft hat über ein kollektives Gedächtnis einen gemeinsamen Nenner gefunden. Weil und immer wenn wir im Mitmenschen unseren Nächsten erkennen, überwinden wir Peinlichkeit und Angst. Pfarrer Matthias Jens, Auf Mohrbüsch 4 54292 Trier

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