Gene + Umwelt = Erkenntnis

TRIER/BERN. Wie lernen Kinder am besten? Und wann? Und welche Rolle spielen dabei die Gene? Diese Fragen beschäftigen seit jeher Pädagogen, Psychologen und Hirnforscher. Nach den Erkenntnissen des Schweizer Kinderarztes und Neurowissenschaftlers Norbert Herschkowitz ist Lernen ein Zusammenspiel von ererbtem Temperament und äußeren Einflüssen, den Lernanreizen.

Herschkowitz hat sich eingehend mit der Gehirn- und Persönlichkeitsentwicklung in den ersten sechs Lebensjahren eines Kindes befasst. Seine wesentliche Erkenntnis ist: "Beim Lernen sind alle Hirnregionen aktiv. Das Gehirn lernt als Ganzes, kognitiv, emotional und sozial, abhängig von der Interaktion zwischen Genetik, etwa ererbtes Temperament, und Umwelt.""Sprachexplosion" mit eineinhalb Jahren

Jede Aktivität des Menschen, die zum Lernen führt, trägt laut Herschkowitz über eine spezifische Erweiterung der Gene zur Entwicklung des Hirns bei, besonders in den ersten sechs Lebensjahren. Noch vor dem Schulalter werden so viele Zellverbindungen zur Reizübertragung (Synapsen) im Gehirn gebildet wie nie mehr danach. Diese Erkenntnisse der Hirnforschung könnten nach Ansicht des Kinderarztes gerade im Hinblick auf den Spracherwerb wichtige Impulse für interdisziplinär erarbeitete Bildungskonzepte geben. Denn die Sprachzentren eines Kindes entwickeln sich im zweiten Lebensjahr, wobei die bis dahin überwiegende Aktivität der rechten Gehirnhälfte von einer engeren und effizienteren Verbindung beider Gehirnhälften abgelöst wird. "Mit eineinhalb Jahren kommt es zu einer regelrechten Sprachexplosion", sagt Herschkowitz. "Das Kind sucht aus dem Meer von Worten, die es hört, häufige und bedeutsame Begriffe aus. Sie werden in der linken Gehirnhälfte mit der lexikalischen Bedeutung und in der rechten Gehirnhälfte mit dem zugehörigen Bild verknüpft." Daraus ergeben sich nach den Erkenntnissen des Wissenschaftlers entscheidende Einflussmöglichkeiten für die Eltern: Schauen sie mit ihrem Kind Bilderbücher an, erlebt es, dass es die gleichen Bilder sieht, wie sie. Das sei bedeutend, sagt Herschkowitz, denn für jeden Menschen sei nicht das Ereignis wichtig, sondern das damit verknüpfte Erlebnis, die Interpretation. Besonders förderlich seien zudem der ständige Dialog und das Gespräch: "Wenn das Kind etwas falsch sagt, dann sollte man es richtig wiederholen. Das Kind lernt durch Imitation, was ihm nicht nur Freude macht, sondern auch die erste Phase des Rollenmodells prägt." Ein begleitender Gesichtsausdruck verleihe der Sprache zusätzlich Bedeutung, besonders einem vernünftig eingesetzten "Ja" oder "Nein" als Basis für eine Familienethik.Aufmerksamkeit und Motivation nötig

Jede das zukünftige Denken und Handeln beeinflussende Erfahrung (Lernen) schlägt sich nach den derzeitigen Erkenntnissen der Wissenschaft im Gehirn durch strukturelle Veränderungen nieder. Um lernen zu können, sind Aufmerksamkeit und Motivation nötig. Sie werden entweder durch die Sinne (neuer Reiz, etwa Geräusch, das ergründet werden möchte) oder durch die Hirnrinde (man hat ein Ziel, möchte etwas probieren) geweckt. Besonders aktiv ist das Hirn zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr. "Nun kann das Kind Ursache und Wirkung unterscheiden, Konsequenzen erkennen, lernen, mit Frustrationen und Problemen umzugehen, Aufgaben in der Familie übernehmen und vor allem zwischen kreativem und Konsum-Handeln unterscheiden", sagt Herschkowitz. An dieser Stelle sei Einfluss möglich, indem die Eltern Anregungen geben, neues bieten und erkennbare Vorlieben fördern. Empfehlenswert sei die Einführung einer Zweitsprache in dieser Zeit, sagt der Neurowissenschaftler. "Denn schon ab dem siebten Lebensjahr sind die Sprachzentren verschoben, das Lernen damit schwieriger und der Zuwachs an Hirnrinde geringer." Auf einer Fachtagung in Tutzing wurden diese Erkenntnisse im Hinblick auf pädagogische Konzepte diskutiert. Das Fazit Herschkowitz': "Die Hirnforschung kann keine Rezepte liefern, aber wichtige Impulse geben. Ein optimaler Bildungsweg muss in echter Zusammenarbeit von Neurowissenschaftlern, Pädagogen, Psychologen und Sozialwissenschaftlern gefunden werden."

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