Irren ist fraulich

Ich biege um die Ecke. Noch zehn Meter, noch sieben, noch fünf. Einmal tief durchatmen, die schwitzigen Hände an der Jeans abwischen, lächeln. Alles wird gut. "Hab dich nicht so", sage ich laut. "Schließlich hast du es endlich geschafft." Ja, endlich hat ER mich zum Essen eingeladen.

Drei Monate harter Arbeit liegen hinter mir, seit ich IHN zwischen Roggenbrot und Puddingbrezeln entdeckt habe. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich kurz vor Ladenschluss in die Bäckerei stürzte - und mir der Blick in tiefgrüne Augen den Atem raubte. Oder besser gesagt, die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn abschnitt. "Hallo! Sie sind dran!" Eine ältere Dame riss mich aus meinen Betrachtungen. "So grün. Ich meine, ähm, ich hätte, äh, gerne eine Tasche...", stammelte ich. "Ähm, eine Apfeltasche und...Augen...ich meine Brötchen. Drei Brötchen." Und "dich", fügte ich in Gedanken hinzu und betrachtete den ganzen Kerl: Braune Haare, unwiderstehliche Grübchen beim Lachen, ein Til-Schweiger-Kinn, dazu ein enges Shirt, Schlaghose und schöne Schuhe. So wie er mich ansah, hatte auch er Feuer gefangen. Das konnte ich spüren. Weibliche Intuition. Wie ferngesteuert landete ich in den folgenden Wochen - natürlich rein zufällig - jeden Tag in der Bäckerei, setzte mich in eine Ecke und schlürfte betont langsam Cappuccino. Am dritten Tag guckte seine Kollegin, Frau Hild, mich komisch an, am fünften lächelte sie zaghaft und am zehnten Tag begrüßte sie mich wie eine alte Bekannte. Ich erfuhr alles über die sexuellen Vorlieben ihres untreuen Ex-Mannes, über die Wehwehchen der Schwiegermutter und über meinen Traummann Timo. Zwar nahm mein Geldbeutel ab und ich zwei Kilos zu, aber Timos Lächeln war die Mühe wert. Okay, wir sprachen nicht miteinander, aber wer nicht sät, kann auch nicht ernten. Gestern passierte es dann: Timo setzte sich zu mir und lud mich zu sich zum Essen ein. Frau Hild hätte so von mir geschwärmt. Ich merkte natürlich gleich, dass das nur ein Vorwand war, um mich kennen zu lernen. Weibliche Intuition eben! Und hier stehe ich nun vor dem Haus der Begierde und frage mich, ob er mich küssen wird? Und viel wichtiger: Was, wenn er zum Nachtisch mehr will als nur Tiramisu oder Eis? Würde ich überhaupt mit ihm..., also, ich kenne ihn doch kaum... Andererseits, wenn ich mir seine muskulösen Oberarme vorstelle, seine gepflegten Hände. Ich sehe vor mir, wie er mir quer über den Tisch tief in die Augen sieht, langsam aufsteht, meinen Kopf zärtlich in beide Hände nimmt und... Ich straffe die Schultern und klingele. "Komm rauf", scheppert seine Stimme durch die Gegensprechanlage. Traummann, ich komme! Timo lehnt lässig im ersten Stock am Türrahmen. "Schön, dass du da bist", begrüßt er mich. "Fühl dich wie zu Hause." Ich betrete einen schmalen Flur, der in Timos Wohnzimmer mündet. Bevor ich die Möbel begutachten kann, spüre ich wie sich meine Augen an einer Wand voller Poster festsaugen: Poster mit halb nackten männlichen Paaren. Oh nein... Timo... waaaaaruuuum? Doch schlimmer als die Tatsache, dass Timo nichts für Frauen übrig hat, ist die Erkenntnis, dass selbst auf die weibliche Intuition kein Verlass mehr ist.

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